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Gewerkschaften als Vorreiter für die Mobilitätswende?

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Der schon immer fragile Klassenkompromiss der frühindustrialisierten Länder, basierend auf einer gewissen Teilhabe der Mittelschichten am fossilen Wohlstand, scheint durch die ökologische Modernisierung weiter zu zerbrechen. Beispielhaft lässt sich dies an E-Autos als vermeintlich transformatives Produkt illustrieren: Während eine umfassende Verkehrswende allen Menschen gleichermaßen zugutekommen würde, profitieren von der Antriebswende nur Menschen, die sich ein solches Auto leisten können.  Der Mobilitätssektor spielt eine bedeutende Rolle bei der Bekämpfung der Klimakrise, doch seine Dekarbonisierung verläuft dreimal langsamer als in anderen europäischen Wirtschaftssektoren (Transport & Environment, 2024).

Derzeit scheint der hegemoniale Ansatz in der Mobilitätspolitik vor allem eine (Nicht-) Veränderung des individuellen Mobilitätsverhaltens in den Blick zu nehmen. Vernachlässigt wird hierbei, dass besonders die industrielle Produktion von Transportfahrzeugen – insbesondere im Autoland Deutschland – jahrzehntelange Pfadabhängigkeiten schafft. Eine wirkliche Mobilitätswende bedeutet also auch eine Umstellung der Produktion. Diese Perspektive rückt zwangsläufig auch die globalen Produktionsketten des automobilen Kapitalismus vor Augen, die dann nicht länger vor den ökologischen und sozialen Folgen des Ressourcenabbaus im globalen Süden verschlossen bleiben können.

Vertreten durch die Gewerkschaft sind also sowohl die Busfahrerin als Mobilitätsdienstleisterin wie auch die VW-Fachkraft als Fertigungsmitarbeiter unerlässliche Akteure für eine sozial-ökologische Transformation des Mobilitätssektors. Ein Hauptanliegen für Gewerkschaften der Zukunft muss es sein, den Zielkonflikt zwischen Arbeitsplatzerhalt und Klimaschutz aufzulösen. Wenngleich sich die deutschen Gewerkschaften nur langsam und teils unter Vorbehalten diesem Dilemma annehmen, gibt es insbesondere im Mobilitätssektor schon spannende Ansätze.

Mit Verteilungs- und Klimakämpfen zu einem neuen Verkehrssystem? Die Kampagne #Wirfahrenzusammen

Beginnend mit dem Aufstieg von Fridays For Future (FFF) im Jahr 2018 konnte die internationale Klimabewegung große Teile der Bevölkerung zu Massendemonstrationen motivieren. So schnell wie sich das Möglichkeitsfenster für weitgreifende progressive Politiken öffnete, wurde es durch den Ausbruch der Pandemie und des Ukraine-Krieges jedoch auch wieder geschlossen. Die Mobilisierungskraft der Klimabewegung sank daraufhin bedeutsam. Seitdem ist die Bewegung rund um FFF auf der Suche nach neuen Strategien. Einer dieser neuen Ansätze besteht in dem sogenannten Labour Turn der Klimabewegung.

Dieser Ansatz baut auf die bereits seit 2019 bestehende Vernetzung zwischen Klimabewegung und Gewerkschaften auf. In diesem Zusammenhang hat sich die Kampagne „#wirfahrenzusammen“ gegründet, in der sich FFF und die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in einem Bündnis zusammengeschlossen haben. Gemeinsam treten sie für bessere Arbeitsbedingungen der Belegschaft ein und fordern einen besser funktionierenden ÖPNV, welcher wiederum der gesamten Bevölkerung zugutekäme.

Bis 2030 werden knapp 50.000 Beschäftigte den ÖPNV-Sektor altersbedingt verlassen, was die Neueinstellung von bis zu 90.000 Arbeitskräften erfordert (Friese et al., 2024). Der Personalmangel setzt die bestehende Belegschaft unter zusätzlichen Arbeitsdruck und wirkt sich durch mangelnde Zuverlässigkeit auch negativ auf die Fahrgäste aus. Neben einem kostenlosen ÖPNV und dem Ausbau der Bahninfrastruktur forderte die Kampagne TV-N 2020 daher einen bundesweiten Rahmentarifvertrag, der für die Beschäftigten unter anderem 30 Urlaubstage und individuelle Entlastungstage bedeutet hätte. Nach ersten Verhandlungen mit dem Verband kommunaler Arbeitgeberverbände am 19. August 2020 wurden bundesweite Tarifauseinandersetzungen mit ver.di jedoch abgelehnt. Nichtsdestotrotz konnten neue Tarifverträge in den Ländern geschlossen werden, die für die Belegschaften beachtliche und handfeste Verbesserungen bedeuteten. Mit der neuen Tarifrunde beginnend im Jahr 2023 konnte das Bündnis in seiner zweiten Auflage an die Erfolge vom Jahr 2020 anknüpfen und bessere Arbeitsbedingungen erkämpfen.

Mit ihrem Erfolg stellt die Kampagne ein gutes Beispiel für eine ökologische Klassenpolitik dar (Lucht & Liebig, 2023). Mit der strategischen Allianzbildung zwischen unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Akteuren gelang es, unterschiedliche Milieus zu vernetzen und die Klima- und Gewerkschaftsbewegung trotz Widerständen aus den eigenen Reihen näher zusammenzubringen. Den erreichten Zielen stehen allerdings auch Herausforderungen entgegen. Das gesellschaftlich und politisch weiterhin tief verankerte Paradigma der autozentrierten Verkehrspolitik verhindert derzeit eine umfassenderen Mobilitätswende. Daher kommen die Organisator*innen zu dem Fazit: „Wir fahren zusammen … und wir sind noch nicht am Ziel!“

Konversion und internationale Solidarität – Nachhaltige und faire Produktion kommt nicht von allein

Ein spannender Versuch, das industriepolitische Dilemma zwischen Arbeitsplatzerhalt und ökologischer Transformation sozialverträglich zu bearbeiten, stellt das Konzept der demokratischen Konversion dar. Anstelle der profitgesteuerten Produktionslogik rückt ein demokratischer Prozess, der sowohl das “Was” als auch das “Wie” der Produktion neu definiert und ökosoziale Kriterien in den Vordergrund rückt. Wenngleich organisierte Arbeiter*innen aufgrund ihrer Fähigkeit zur Arbeitsniederlegung eine inhärente Verhandlungsmacht besitzen, sind demokratische Konversionsbestrebungen derzeit nur ein Randphänomen. Dennoch gibt es erste Anknüpfungspunkte, beispielsweise im VW-Werk in Baunatal: Um ihrer pessimistischen Haltung gegenüber der E-Auto-Konzernstrategie Ausdruck zu verleihen, formulierte der Betriebsrat beispielsweise die Idee, im Werk nachhaltigen Strom herzustellen und verknüpfte dies mit der Forderung nach erweiterter Mitbestimmung der Beschäftigten im Produktionsprozess.

Für die Trias aus Arbeitsplatzerhalt, demokratischen Entscheidungsstrukturen im Betrieb und ökologisch sinnvoller Produktion steht heutzutage insbesondere das Fabrikkollektiv ex-GKN: ein ehemaliger Automobilzulieferbetrieb aus Florenz, der mit seiner Betriebsbesetzung und der anvisierten Umstellung der Produktion neue Maßstäbe setzt (Kaiser, 2023).

Um dem wachstumsorientierten und krisenanfälligen Produktionsregime eigene, demokratische Produktionsvorstellungen glaubhaft entgegensetzen zu können, ist außerdem ein Blick über den deutschen Tellerrand geboten. So gilt der Verkehrssektor neben dem Bausektor als “Rohstoffschlucker” schlechthin, was in den Abbaugebieten häufig fatale Folgen für die lokale Bevölkerung hat. Setzt man hingegen auf kollektive Formen der Mobilität, ließe sich der Bedarf an Rohstoffen wie Lithium oder Kobalt, die teils unter ökologisch und menschenrechtlich unhaltbaren Bedingungen gefördert werden, erheblich reduzieren. Spricht man sich darüber hinaus für gute Arbeitsbedingungen und die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisierung aus, muss dies auch über alle Breitengrade hinweg gelten. Mit anderen Worten: will man transnational agierenden Unternehmen eigene Handlungsmacht gegenüberstellen, muss diese auch global aufgebaut und artikuliert werden. So wirkten beispielsweise Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen im Dialog mit deutschen Autoherstellern und Regierungsakteuren darauf hin, dass in Mexiko seit Mai 2024 ein Beschwerdemechanismus die Einhaltung von Menschenrechten im automobilen Produktionsprozess gewährleisten soll. Das Lieferkettengesetz kann hier ein wichtiger Hebel für gewerkschaftliches Engagement für faire und nachhaltige globale Handelsbeziehungen sein, da es Betriebsräten ermöglicht wirksam Druck aufzubauen.

Es zeigt sich, dass der häufig beschworene Kulturkampf um die ökologische Mobilitätswende tatsächlich vielmehr anhand materieller und sozialer Konfliktlinien verläuft. In diesem Konfliktfeld können Gewerkschaften als Verfechter von guter Arbeit innerhalb planetarer Grenzen in Zukunft eine Schlüsselposition einnehmen und gleichzeitig durch strategische Allianzbildung durchsetzungsfähiger werden: für gute Arbeits- und Lebensbedingungen im Heute und im Morgen. Gleichzeitig müssen Grenzen derzeitigen gewerkschaftlichen Handelns, seien sie institutioneller oder politischer Natur, kritisch herausgearbeitet werden. Klar ist: Solange Fragen der Erwerbsarbeit, der reproduktiven Arbeit und der Ökologie getrennt voneinander diskutiert werden, ist es ein Leichtes, sie gegeneinander auszuspielen.

Dieser Blogbeitrag ist Teil des Projekts „Die globale sozial-ökologische Transformation – eine Veranstaltungsreihe zur Rolle der Gewerkschaften“ der ver.di GPB und NELA. Next Economy Lab und wurde von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Postcodelotterie gefördert. Weitere Informationen findet ihr in den Aufzeichnungen und auf der Website.

 

Referenzen

Friese, F., Schaaffkamp, C., & Klauser, C. (2024). Kurzstudie zum Personalbedarf im kommunalen ÖPNV bis 2030/35. Klima-Allianz Deutschland und Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver. di), Kurzstudie, online verfügbar unter: https://www.verdi.de/presse/downloads/pressemappen/++co++e70a122c-dfaa-11ee-8e3a-6f0c150ddb48

Kaiser, J. (2023). Rückkehr der Konversionsbewegung? Potenziale und Grenzen der Konversionsbestrebungen sozial-ökologischer Bündnisse rund um Autozuliefererwerke. PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft, 53(210), 35–53.

Lucht, K., & Liebig, S. (2023). Sozial-ökologische Bündnisse als Antwort auf Transformationskonflikte? Die Kampagne von ver. di und Fridays for Future im ÖPNV. PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 53(210), 15-33.

Transport & Environment (2024, 24, März). Europas Verkehrssektor wird 2030 fast die Hälfte der Emissionen ausmachen. https://www.transportenvironment.org/articles/europas-verkehrssektor-wird-2030-fast-die-halfte-der-emissionen-ausmachen

Rufus Dahm ist Praktikant beim Next Economy Lab. Hierbei verknüpft er Perspektiven aus dem Politikwissenschaftsstudium an der Freien Universität Berlin mit Erfahrungen aus dem Bewegungskontext, insbesondere der Klimagerechtigkeitsbewegung. Schwerpunkt seiner Arbeit bei NELA sind demokratische Konversion und ökologische Gewerkschaftspolitik.

Leon Raabe ist studentische Hilfskraft beim Next Economy Lab. In seiner Arbeit für NELA und in seinem Masterstudium Ökonomie – Nachhaltigkeit – Gesellschaftsgestaltung setzt er sich vorwiegend mit der Postwachstumsökonomie auseinander. Mit dieser Perspektive bringt er sich aktiv in die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft und von Gewerkschaften ein.

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