Ob in Krisenzeiten oder bei Hochkonjunktur – das Gesundheitswesen ist seit Jahrzehnten einer der wenigen gesellschaftlichen Bereiche mit weit überdurchschnittlichen Wachstumsraten. Kein Wunder, wächst sein Anteil am Bruttoinlandsprodukt in den modernen Industrieländern unaufhaltsam – in den USA beträgt er bereits 16 Prozent.
Das Problem ist nur: im Gesundheitswesen geht es gar nicht um Gesundheit, sondern zur Hauptsache um Krankheit, vor allem um die Therapie, Linderung und auch Symptombehandlung von immer vielfältigeren und hartnäckigeren chronischen Erkrankungen. Das schafft zwar Arbeitsplätze, verschlingt aber Unsummen und ist immer schwieriger finanzierbar.
Natürlich hat es auch mit dem steigenden Durchschnittsalter der Bevölkerung zu tun, aber nicht nur. Die Gesundheitsindustrie selber ist heute zu einem der wichtigsten krankmachenden Faktoren geworden, denn viele ihrer Therapieangebote haben beträchtliche Nebenwirkungen. Noch mehr Ärzte, noch mehr Spitalbetten, noch mehr Operationen und noch mehr Medikamente bedeuten nicht, dass es der betreffenden Bevölkerung besser geht, dass sie gesünder und zufriedener ist, dass sie länger lebt. Sie kosten lediglich mehr. Das zeigen Ländervergleiche oder auch der Vergleich zwischen den verschiedenen Kantonen der Schweiz.
Weniger könnte auch mehr sein. Das wird am Beispiel des Gesundheitswesens besonders deutlich. Wenn wir sowohl für die Patient/innen als auch für die Ärztinnen und Ärzte die Anreize anders setzen und auf die Gesundheit ausrichten, dann sind rund 30 Prozent aller Krankheitsleistungen plötzlich überflüssig – bei gleicher Zufriedenheit der Patient/innen.
Oder wenn wir die oft invasiven und symptombezogenen Behandlungen der etablierten Medizin mit Komplementärmedizin ergänzen, dann kann vielen Patient/innen wirksamer geholfen werden – auch deshalb, weil sie sich nun stärker in den eigenen Heilungsprozess miteinbezogen sind und sich daran beteiligen. Weitere Stichworte sind: integrale Gesundheitsförderung und konsequente Förderung gesunder Lebensverhältnisse. Auch das kostet und schafft Arbeitsplätze, es wirkt jedoch im Hinblick auf die Gesundheit sehr viel nachhaltiger und hilft in anderen Bereichen Kosten zu sparen, die weit eher krankheits- als gesundheitsbezogen sind.
Schwierig ist einzig, diese neue Grundausrichtung des Gesundheitswesens und auch der Gesellschaft insgesamt gegen etablierte Interessen durchzusetzen. Es bedingt zum einen Meinungsträger, welche diese Thematik vermehrt aufgreifen, und andererseits basisdemokratische Prozesse, die es auch der Bevölkerung ermöglichen, neue Akzente zu setzen.
[…] durchaus positiv zu bewertenden Anstrengungen in anderen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit (Gesundheitspolitik, Aufbau einer funktionierenden Verwaltung […]
Vielen Dank für Ihren wohlwollenden Kommentar zu meinem Blogbeitrag. Auch dort, wo Sie eine Divergenz sehen, sind wir in Übrigen wohl einer Meinung. Ich stimme nämlich mit Ihnen überein, dass die Förderung gesunder Lebensverhältnisse letztlich und alles in allem unötige Kosten und Arbeitszeit einsparen wird. Nur sind hierzu vorerst gewisse Investitionen erforderlich, sei es zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsförderung oder hinsichtlich technologischer Neuerungen im Sinn einer nachhaltigen Nutzung von Energie und Rohstoffen.
Auch aus Sicht der Gesundheit respektive der ständig steigenden Krankheitskosten macht somit eine Umlenkung der Gesellschaft und Wirtschaft auf den Pfad einer Postwachstumgesellschaft Sinn – ja, mehr noch, sie stellt eine unabdingbare Voraussetzung für eine auch im globalen Massstab wieder zukunftsfähige Entwicklung dar.
Herr Studer, es freut mich Gesundheit im Kontext der Degrowth Debatte diskutiert zu sehen. Leider ist es noch sehr häufig das Wachstum „natürlichen“ Faktoren (wie demographischer Wandel) oder der Ineffizienz öffentlicher Systeme in die Schuhe zu schieben. Der Hinweis auf die USA zeigt deutlich, dass das Wachstum, wie in anderen Bereichen auch, hauptsächlich ein Phänomen der Wirtschaftsweise ist. Erst auf dieser Basis gewinnen „natürliche“ Phänomene, wie das Alter von Menschen, oder Mechanismen öffentlichen Planens ihren aktuellen Charakter.
Eine etwas abweichende Meinung möche ich bei der Frage vertreten, ob Änderungen der Lebensweise etwas „kosten“ und „Arbeitsplätze“ schaffen. Dem ist, so denke ich, nicht zwangsläufig so. Eine Reduktion der Lohnarbeit würde sogar Kosten sparen und die Gesundheit vieler Leute sicher verbessern. Sowohl auf der negativen Seite (Gesundheitsbelastungen), als auch auf der positiven durch mehr Zeit für eine gesundheitsförderndes Leben.
Besten Dank für die Initiative! Ich bin schon gespannt auf Ihre Erörterungen im Buch.
Markus Sch.
(Inhaltsgruppe Gesundheit von Attac Österreich)