Neues aus der Wissenschaft

EU-Politik jenseits von Wirtschaftswachstum

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Die letzten 70 Jahre haben wir Wohlstand in Form von Wirtschaftswachstum abgebildet. Nach einer schweren Wirtschaftskrise, gefolgt vom zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit war die zentrale ökonomische Herausforderung Europas der Wiederaufbau und die Anhebung der Lebensstandards vieler Menschen. Rasantes Wirtschaftswachstum war damals ein effektiver Ansatz für diese Zielerreichung. Heute, rund 70 Jahre später, haben sich Kontexte, Herausforderungen und Ziele stark verändert. Unsere auf Wachstum ausgerichteten Ökonomien sind Grund für die starke Übernutzung natürlicher Ressourcen. Trotz kontinuierlichem Weltwirtschaftswachstum fehlt es immer noch vielen Menschen an Lebensnotwendigem (Raworth 2017). Die Wachstumsprognosen für die Industrieländer nehmen ab (Teulings und Baldwin 2014). Eine globale Pandemie verdeutlicht schmerzlich die Prioritäten und Fragilität unserer kurzfristorientierten, wachstumsbasierten Ökonomien. Jetzt erst recht brauchen wir resiliente und langfristig stabile Wirtschaftssysteme.

Trotzdem ist Wirtschaftswachstum weiter zentrales politisches Mittel europäischer und nationaler Politik. Wirtschaftswachstum stellt im Status quo eine wesentliche Bedingung für die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher und politischer Stabilität dar (Jackson 2017; Richters und Siemoneit 2019). Staatshaushalte, Vollbeschäftigung, soziale Sicherungssysteme und die Umgehung von Zielkonflikten fordern Wirtschaftswachstum by design, um weiterhin zu funktionieren.

Für  ein Europa der Zukunft, in dem Wohlergehen von Mensch und Natur gesichert werden kann, ist die Entkopplung wirtschaftlicher und politischer Stabilität von der Notwendigkeit kontinuierlichen Wirtschaftswachstums zentrale politische Herausforderung.

Lösungsansatz: Das Projekt ‚Politik jenseits von Wachstum‘

Das bei ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien durchgeführte Projekt setzt an dieser Herausforderung an. Es wurden Gründe und Strategien für die Politik eruiert und entwickelt, um die Abhängigkeit von Wirtschaftswachstum zu reduzieren und politischen Handlungsspielraum auszudehnen. Dieser Zugewinn an Freiheitsgraden unterstützt die Möglichkeit einer Re-Orientierung politischen Handelns an vielfältigen sozialen und ökologischen Zielen. Die Projektergebnisse bieten einen wissenschaftlich basierten, neuen politischen Kompass für den Aufbruch in ein stabiles, nachhaltiges und soziales Europa der Zukunft.

Konkret wurden im Projekt

1) ein Framework für Postwachstumspolitik und eine Politikideendatenbank entwickelt,

2) ko-kreative Policy-Labs und Workshops mit Mitgliedern der EU-Politik organisiert, um ressortübergreifende Prozesse und integrierte Politikstrategien jenseits von Wachstum anzustoßen,

3) eine Website erstellt, auf der im Projekt entwickelte Argumente, Tools und Strategien für politische Entscheider*innen und die Zivilgesellschaft frei verfügbar sind,

4) ein europäisches Netzwerk wichtiger Akteure und politischer Entscheider*innen aufgebaut, um einen produktiven Austausch zu schaffen und die Potenziale und Möglichkeiten einer sozial-ökologischen Transformation zu bündeln.

Ein Framework und eine Datenbank für Postwachstumspolitik

Die Realisierung nachhaltigen, sozial gerechten Wohlstands in Europa fordert Politikansätze, die soziale, ökologische und ökonomische Ziele gleichermaßen adressieren (können). Sie müssen helfen, Wirtschaftswachstum als zentrales Politikziel abzulösen, indem sie strukturelle Wachstumsabhängigkeiten reduzieren. Dies steigert politischen Handlungsspielraum und es können alternative Mittel zu Wachstum für die Erreichung politischer Ziele eingesetzt werden. Bisher fehlte eine konsistente Synthese potentieller Politiken.

Das im Projekt entwickelte kohärente Framework bietet eine Strukturierung bestehender Politikvorschläge aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Der Ansatz berücksichtigt Vernetzung, Kohärenz und Konkretisierung der Politikvorschläge. Politische Entscheider*innen und Berater*innen können mit dem Tool geeignete Politikinstrumente für transformative Strategien finden, die zu der Erfüllung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele beitragen. Die Vorschläge sind nach sieben Politikbereichen strukturiert.

Ziele sind beispielsweise die Sicherung stabiler Beschäftigung und Einkommen, die Regionalisierung von Wertschöpfung oder der Übergang zu nachhaltigen Konsummustern. Letzterem Ziel sind aktuell 16 transformative Strategien zugeordnet. Jene Strategien bringen zum Ausdruck was sich für die Zielerreichung ändern muss. Beispielhafte Strategien sind die Internalisierung von ökologischen und sozialen Kosten oder die Reduktion der Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.

Die Politikideendatenbank soll laufend weiterentwickelt werden. Aktuell umfasst sie 17 Ziele, 86 transformative Strategien und über 230 Politikinstrumente.

Die Website Sustainable Prosperity

Auf der Website www.sustainable-prosperity.eu sind die Politikideendatenbank und weitere Projektergebnisse frei zugänglich gemacht. Aktuell bietet die Seite wissenschaftlich gesicherte Analysen der Herausforderungen sowie Argumentations- und Politikstrategien für Politik jenseits von Wachstum.

Zum einen beleuchtet die Plattform die Geschichte des Wirtschaftswachstums, wirft einen Blick auf die Wachstumsabhängigkeit von Staatshaushalten und Sicherungssystemen, Beschäftigung und Einkommen, Konsum und Renten- und Machtbestrebungen und stellt bereits bestehende Ansätze für alternative und umfassendere Wohlstandsmessungen vor.

In einer Sammlung von fundierten Argumentationsstrategien werden typische Argumente für die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum für ökologische, politische und wirtschaftliche Stabilität  herausgefordert und Gegenargumente angeboten. Die Sammlung soll zur Information politischer Diskussionen dienen und fordert die Prüfung der Basis eigener Überzeugungen heraus.

Desweiteren sind Policy Briefs zum Neudenken von Besteuerung, Arbeit(szeit) und Sozialpolitik nach der Pandemie veröffentlicht worden, entwickelt von internationalen Expert*innen aus dem Netzwerk des ZOE- Instituts.

Einblicke gibt es ebenfalls in die im Projekt durchgeführten ko-kreativen Policy Labs, Workshops und Panel-Diskussionen mit Mitgliedern verschiedener Generaldirektionen der EU-Kommission sowie wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Expert*innen. Ziele dieser Veranstaltungen waren die Sensibilisierung für Wachstumsabhängigkeiten und eine Weichenstellung für Politik jenseits von Wachstum, die Förderung bereichsübergreifender Zusammenarbeit und die Initiierung konkreter Prozess- und Politikvorschläge sowie die Erweiterung und Stärkung einer Multi-Akteurs-Allianz.

Die Website ist kein Endprodukt, sondern soll Prozesse anregen und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Treten Sie direkt mit ZOE in Kontakt, wenn Sie Teil der Allianz für Politik jenseits von Wachstum werden möchten.

’Politik jenseits von Wirtschaftswachstum’ ist ein Projekt vom ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien. ZOE versteht sich als Inkubator für neues ökonomisches Denken, erforscht Wege zu nachhaltigen Ökonomien und bringt die gewonnenen Erkenntnisse durch wissenschaftliche Politikberatung in die Praxis ein.

 

Referenzen

Jackson, T. (2017): Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. Oekom, München.

Raworth, K. (2018): Die Donut-Ökonomie – Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört. Hanser Verlag, München.

Richters, O., Siemoneit, A. (2019): Wachstumszwang – eine Übersicht. ZOE Discussion Papers, No. 3, Februar 2019.

Teulings, C., Baldwin, R. (2014): Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures. CEPR, London.

Tabea Waltenberg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Wissenschaftsladen Bonn. Als Ökonomin und Wirtschaftspsychologin arbeitet sie dort in internationalen Beteiligungsprojekten für eine sozial-ökologische Wirtschaftstransformation. Bis 2019 hat sie bei ZOE im Projekt ‚Politik jenseits von Wirtschaftswachstum’ gearbeitet und war für die Entwicklung der Projektwebsite Sustainable Prosperity verantwortlich. Jakob Hafele ist Mitgründer und Geschäftsführer von ZOE. Er nutzt seine ökonomische Expertise, um die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, nationale und lokale Regierungen beim Aufbau gerechter und nachhaltiger Ökonomien zu unterstützen.

1 Kommentare

  1. Zitat aus dem Artikel: „Beispielhafte Strategien sind die Internalisierung von ökologischen und sozialen Kosten oder die Reduktion der Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen.“

    Hier wäre zwischen Internalisierung und Reduktion ein ganz großes und umfassendes „UND“ nötig gewesen. Für mich stellt sich damit der Grundsatz des Postwachstums dar: Internalisierung und Reduktion. Das ist eine Kraft der Güte, der tiefen Verbundenheit.

    Postwachstum in anderen Worten ausgedrückt: Post-Extraktivismus, postindustrielle Gesellschaft, globale Solidarität in den planetaren Grenzen.

    Wie weit wir davon entfernt sind, wissen wir alle zumindest unterbewusst. Hier nichts zu beschönigen, ist nicht entmutigend, sondern befreiend. Also heißt es besser: Befreiung vom Überfluß ist notwendig, der reißende Strom der Wachstumsgläubigkeit hat tabula rasa gemacht mit Ressourcen und sozialer und ökologischer Vernetzung. Der wachsende Kontrollzwang, die Priorisierung des Weiter-So während der Corona-Krise hat an vielen Orten und in vieler Weise aber Menschen und Umwelt existentiell zusammengeführt, d.h. positiv radikalisiert, die Verbindung zu den Wurzeln und ihrer Vernetzung neu suchen lassen. Das sind die Werte, die die Krise der Entkapitalisierung, die vor uns steht, überleben werden: Empathie für die Mitwelt, auf altdeutsch würde ich sagen, die Revolution sei vor allen Dingen eine Frage der Liebe.

    Solidarische Landwirtschaft, Autoverkehr minimieren (in Städten Reduzierung auf 20 %, Studie der Heinrich-Böll-Stiftung), Digitalisierung auf 10 % hinunter, Konzernmacht herabsetzen (wenn die Politik versagt: ziviler Ungehorsam, d.h. endlich friedlicher, gewaltfreier Boykott, keine Zerstörung), Sicherheitsdenken ad acta zugunsten von Vertrauen und Leben wagen. Ökozidgestz voranbringen, die Verantwortlichen in Regierungen und Konzernen gehören, wenn sie nicht zurückzahlen und ausgleichen können, hinter Gitter und enteignet, um die Folgen ihres Tuns einmal selber zu spüren, CO2-Abgabe von 180 €/to steigend. Es geht hier nicht um Strafe oder Verzicht, sondern um Reparationen an die Länder des globalen Südens.

    Ich habe mit Mathis Wackernagel (Global Footprint Network) ein Webinar mitgemacht, „Zukunft per Design oder Desaster?“. Auch hier passt mir das oder gar nicht: wie wollen wir das Desaster gestalten, das wir unseren Nachkommen eingebrockt haben? Was können wir ihnen noch an Lösungen vorleben? Welche wertschöpfenden Erfahrungen stecken in uns, alt oder jung? Die Freiheit dessen, der wenig braucht, ist größer als jeglicher Besitz an Statussymbolen (durchaus auch institutionell oder staatlich durch zu deklinieren).

    Sonst könnte es ganz einfach zu diesem Ende kommen: Es soll vorkommen, dass die Nachkommen mit dem Einkommen nicht auskommen und umkommen. Und da wäre keine monetäre Problematik, sondern einfach das Thema, das Geld keinen Eigenwert hat, wenn es illusionär gedruckt, „geschöpft“ wird in Steueroasen.

    Meine große Hoffnung auf einen jetzt fälligen Systemwechsel (Wende statt Ende) besteht in der Sicht, dass wir mit unserem menschlichen Einsehen jeglicher künstlichen Intelligenz weit überlegen sind. Diese menschliche Einsicht gilt es zu üben, gerade weil es HEILUNG nur da geben kann, wo wir Schuld und Schmerz annehmen.

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