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Es ist Zeit für eine Postwachstumsgesellschaft

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Es ist bemerkenswert: Gemäss der Emnid-Befragung vom Juli dieses Jahres meinen 9 von 10 Personenen aus Österreich und Deutschland, dass wir eine neue Weltordnung brauchen, bei der der Schutz der Umwelt, der sorgsame Umgang mit Ressourcen und der soziale Ausgleich in der Gesellschaft stärker berücksichtigt werden. Jedoch glaubt die Mehrheit der Deutschen (61%) und Österreicher (64%) nicht, dass mit einem höheren Wirtschaftswachstum auch die eigene Lebensqualität steigt. Die Werte Gesundheit und Familie, ein selbstbestimmtes Leben und der Schutz der Umwelt rangieren in der Umfrage weit vor der Mehrung des Reichtums.

Gleichzeitig aber ist eine überwältigende Mehrheit von 90% der Ansicht, dass Wirtschaftswachstum sehr wichtig ist für die Lebensqualität der Gesellschaft. 80% der Befragten sind der Ansicht, dass ein Zuwachs von materiellem Wohlstand der Bevölkerung in Einklang zu bringen ist mit dem Schutz der Umwelt und einem sorgsamen Umgang mit Ressourcen.

In diesen Befragungsergebnissen wird die Diskrepanz deutlich zwischen den eigenen Werthaltungen und dem eigenen Erleben und dem gängigen, fest verankerten ideologischen Überbau: Wirtschaftswachstum ist nicht wegzudenken. Und wenn uns Umweltschutz wichtig ist, dann muss dieses Ziel eben mit Wirtschaftswachstum vereinbar sein oder vereinbar gemacht werden.

Man kann ja noch eine neue Wirtschaftsordnung fordern – aber an Wirtschaftswachstum muss man festhalten. Dieses Festhalten ist das Ergebnis der erlebten, langen Wachstumsphase nach dem zweiten Weltkrieg, des unbestrittenen Primats des Wirtschaftswachstums in der Politik, der Gewöhnung an das Immer-Mehr in der Gesellschaft.

Wir persönlich mögen den Begriff „genug“ kennen, für die Gesellschaft können wir uns ein Genug nicht vorstellen. Es muss Wachstum sein, wenn schon nicht mehr ein quantitatives, dann ein qualitatives oder ein selektives, ein differenziertes, ein grünes Wachstum. Am Wachstum hängen so viele Versprechungen – von den Arbeitsplätzen bis zum sozialen Ausgleich. Aber angesagt ist der Abschied vom Wachstumsglauben, weil die Wachstumsversprechungen nicht eingelöst wurden, weil die Ressourcen zu Ende gehen und die Atmosphäre nicht mehr CO2 verkraften kann, weil die Industrieländer die Ressourcen nicht mehr allein unter sich aufteilen können, weil die Entwicklungs- und Schwellenländer nicht nur ein Recht auf wirtschaftliche Entwicklung haben, sondern sich dieses Recht auch nehmen.

Realismus ist nötig. Die Wachstumsära in den Industrieländern geht zu Ende. Es ist Zeit, sich darauf einzustellen, über eine Postwachstumsgesellschaft nachzudenken und zu handeln. Wir müssen vom Wirtschaftswachstum wegkommen, besser „by design“ als „by desaster“, so der kanadische Wirtschaftsforscher Peter Victor. Das Buch „Postwachstumsgesellschaft. Konzepte für die Zukunft“ wirbt für die klügere und menschenfreundlichere Variante.

Prof. Dr. Angelika Zahrnt ist Ehrenvorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und war von 1998 bis 2007 Vorsitzende. Von 2001 bis 2013 war sie Mitglied im Rat für Nachhaltige Entwicklung der deutschen Bundesregierung und im Strategiebeirat Sozial-ökologische Forschung des deutschen Bundesforschungsministeriums. Seit 2010 ist sie Fellow am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Sie hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, u.a. zu den Themenbereichen Nachhaltigkeit, Produktlinienanalyse, Ökologische Steuerreform, Ökologie und Ökonomie, Frauen und Ökologie. Sie war u.a. Initiatorin der Studien „Zukunftsfähiges Deutschland“ (Basel 1997 und Frankfurt a.M. 2008). Zusammen mit Irmi Seidl ist sie außerdem Herausgeberin des Buches „Postwachstumsgesellschaft - Konzepte für die Zukunft“ und Mit-Initiatorin des Blogs Postwachstum.de. Mit Uwe Schneidewind hat sie das Buch „Damit gutes Leben einfacher wird – Perspektiven einer Suffizienzpolitik“ geschrieben. 2006 und 2013 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen und 2009 der Deutsche Umweltpreis.

3 Kommentare

  1. Hallo,
    der letzte Beitrag von HHH findet meine volle Zuistimmung. Die Diskussionen sind generell zu abstrakt, wir brauchen konkrete Mechanismen, Stellschrauben, an denen wir drehen können. Ein solcher Drehpunkt ist , wie von Herrn Hirschelmann auch schon erwähnt, die Mehrwertsteuer.

    Darüber habe ich mir vor kurzem ausführlich Gedanken gemacht und das System einer gestaffelten Mehrwertsteuer entwickelt, mit dem man den Konsum lenken, die Umwelt entlasten und die Beschäftigung förderben kann, ohne Wachstum und Kapitalvermehrung. Wäre z.B. etwas für die französische Regierung, die ja im Gegensatz zu der unsrigen unter Aktionszwang steht.

    Wer sich für einen konkreten Vorschlag in dieser akademischen Debatte interessiert und 5 Minuten Zeit dafür hat, findet genügend Anregungen in der Ausarbeitung dieser Idee auf meiner Webseite.
    Hier der Link zur gestaffelten Mehrwertsteuer:

    Falls das hier mit dem Link nicht funktioniert, noch mal die URL:
    http://www.kritlit.de/lp1/mwst.htm

    Grüße aus Köln
    Rob Kenius

  2. Die geschilderte Diskrepanz ließe sich auch anders als mit Ideologiebefangenheit erklären. Viele könnten der Ansicht sein, dass ihnen persönlich mehr Wohlstandswachstum nicht so viel bringt. Sie sehen aber, dass Mangel an Wirtschaftswachstum zu mangelden Steuereinnahmen, Arbeitslosigkeit, Sinken von Investitutionsbereitschaft usw. führt. Das Begehren nach einer anderen Weltordnung ist die voll und ganz rationale Schlussfolgerung. Dass die aber nicht auf der Stelle etabliert wird, hat vielleicht weniger mit Wachstumswahn zu tun als dass das kein so leichtes Unterfangen ist, das auch nicht so ganz ungefährlich zu sein scheint. Der letzte diesbezügliche Großversuch ist sehr schief gegangen. Bekennender Anti-Kapitalismus ohne nachvollziehbare Transformationsstrategie und .ziel ist und macht deshalb eher hilflos. Dinge die tatsächlich weiter helfen könnten, d.h. in Richtung eines globalen Für- und Voneinanders das sozio-ökologisch rationale Entscheidungen darüber erlaubte, was wachsen und was gleich bleiben oder schrumpfen soll, wären etwa die Formulierung (Verabschiedung und regelmäßige Fortschreibung) der UN Nachhaltigkeitsziele. Visiualisiert werden können Nachhaltigkeitsziele hervorragend mit Kate Raworths Doughnut Economics. Beides findet viel zu wenig Beachtung. Das Ganze bräuchte allerdings eine vernünftige Finanzierungsstrategie, für entsprechende (nationale, regionale usw.) Umbaubrogramme Diese, etwas, das an den Gedanken der Ökosteuer ansetzt, eine ökologische Reform der Mehrwertsteuer oder des Welthandelssystems (Ökozölle) zu fordern wäre doch besser, als ein über das andere Mal über das Wachstumsdenken zu klagen. Oder?

  3. Hier ein gutes Buch zum Thema: Fances Moore-Lappé:
    „Packen Wir`s an“ !
    Frances Moore Lappé, Gründungsmitglied des World Future Councils, und Autorin von sechzehn Bücher, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, beschäftigt sich mit vielen sozialen und ökologischen Projekten. In diesem Buch möchte sie ihre Leser dazu ermuntern, sich von der scheinbaren Ohnmacht zu lösen, und aufzuhören immer nur über das zu klagen, was schief läuft. Sie deckt Mythen auf, und ermuntert jeden dazu, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Um zu verdeutlichen, dass Veränderung auch tatsächlich möglich ist, zeigt sie diverse Möglichkeiten auf, so dass jeder sich auch inspiriert und in der Lage fühlt, etwas an der jetzigen Situation zu ändern. Ein und mutmachendes Buch.

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