Suffizienz und Konsistenz zusammendenken
In ihrem Buch „Chemiewende. Von der intelligenten Nutzung natürlicher Rohstoffe“ argumentieren Hermann Fischer (Gründer der AURO Naturfarben AG und Inhaber des Zukunftspreises der „Friends of the Earth“) und Horst Appelhagen (Unternehmensberater der chemischen Industrie für Umweltschutz- und Zulassungsfragen) für die Dringlichkeit einer „Chemiewende“. Während die Energiewende als Ausstiegspfad aus der Nutzung fossiler Energieträger gesellschaftlich bereits überwiegend anerkannt ist und politisch gefördert wird, stehe die „Chemiewende“ diesbezüglich noch ganz am Anfang. Tatsächlich sind Produktion und Konsum noch immer stark von der petrochemischen Industrie abhängig.
So machen erdölbasierte Rohstoffe aktuell 90 % der in der chemischen Industrie verwendeten Rohstoffe aus. Wir finden sie überall in unserem Alltag, von der mineralischen Düngung unserer Nahrungsmittel über die Produktion von Bau-, Färb- und Klebestoffen für Gebäude und Fortbewegungsmittel, dem Teer unserer Straßen (Bitumen) bis hin zu chemischen Bestandteilen in Kleidung, Elektronik, Waschmitteln oder Kosmetika. Einige dieser Bestandteile können zu diversen Gesundheits- und Umweltrisiken führen, es werden beispielhaft hierfür hormonanaloge Stoffe wie Weichmacher genannt, welche sich in Trinkwasser, Ackerböden oder menschlichem Gewebe ansammeln. Aber auch die Problematik von Mikroplastik in den Meeren sowie deren Persistenz, also die kaum vorhandene Abbaufähigkeit dieser Produkte, werden erwähnt. Denn während für CO2 noch Rückholmöglichkeiten denkbar sind, beispielsweise durch Moore oder Geo-Engineering, lassen sich Mikroplastik und seine zahlreichen Abbauprodukte nicht so ohne weiteres wieder aus den Organismen entfernen, die wir essen.
Hierfür ist bisher wenig Bewusstsein vorhanden, ebenso wie für unsere Abhängigkeit von diversen Kunststoffen: „Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass diese Abhängigkeit [von den fossilen Kohlenstoffträgern] im Bereich der Chemie eher noch größer ist [als im Bereich der Energie]. Und viele meiner Chemikerkollegen empfinden geradezu Schmerzen bei dem Gedanken, sich von dieser fossilen Basis verabschieden zu müssen. Ich nenne das einmal Katerschmerzen, Entzugsschmerzen nach diesem ungehemmten Gebrauch der Droge Erdöl.“ (S. 20)
Die Autoren veranschaulichen auf anregende Art, wie vielseitig eine Chemie, die in der Natur vorkommende Stoffe nutzt, die petrochemischen Stoffe ersetzen könnte: Biolandbau kommt bereits heute ohne mineralische Dünger aus, Naturfasern wie Zellulose werden bereits in der Automobilproduktion verwendet, das in Berlin hergestellte NaWaRo Fahrrad wird fast gänzlich aus biogenen Stoffen gefertigt. Häuserdämmung durch Lehm und Stroh übertrifft den ökologisch bedenklichen Styropor in vielerlei Hinsicht. Ätherische Öle hemmen als Konservierungsmittel die Ausbreitung von Mikroben. Muscheln produzieren wasserfesten Klebstoff. Die wasserabweisenden Eigenschaften von Lotuspflanzen oder hydrodynamische Form von Pinguinen werden im Forschungsgebiet der „Bionik“ in der Produktion nutzbar gemacht. Bei der Beschreibung all dieser Möglichkeiten beteuern die Autoren, wie viel mehr Möglichkeiten durch zusätzliche Forschung denkbar wären, und legen vor allem Wert auf Vielfalt – sie sehen in diesen Konsistenzstrategien nicht zuletzt eine Förderung von Biodiversität.
Während die chemischen und technischen Innovationsmöglichkeiten der Chemie abseits fossiler Rohstoffe überzeugend, aufschlussreich und inspirierend zu lesen waren, erschien mir das Buch im Hinblick auf makroökonomische und politische Zusammenhänge ein wenig kurzsichtig. So wurden zwar einerseits die sozialen Probleme der Ölabhängigkeit im Sinne vieler Ressourcenkriege aufgezeigt, und auch das Machtungleichgewicht in Verbindung mit multinationalen Konzernen aus dem Bereich fossiler Rohstoffe wurde angedeutet. Andererseits wurde dieser Gedanke leider nicht weitergedacht: das starke Wirtschaftswachstum und damit verbundene Umweltprobleme, die mit dem Aufkommen des Öls einhergingen, sowie das derzeitig stagnierende Wachstum und damit verbundene wirtschaftliche Probleme kamen nicht zur Sprache.
Die Chemiewende mit der Postwachstumsdebatte zusammenzudenken, könnte beide Seiten bereichern. Nicht zuletzt, da einige Parallelen auffielen. Zwar meinen die Autoren, Konsumverzicht wäre in einer Gesellschaft nach bestandener Chemiewende nicht (mehr) nötig. Jedoch sprechen sie sich durchaus für Suffizienz aus, indem sie die Abkehr von der „Wegwerfmentalität“ und den „Übertreibungen im Konsumbereich“, die Beschränkung auf die Erfüllung „echter Bedürfnisse“ und Beständigkeit von Produkten in der Chemiewende für notwendig halten (S. 97f).
Um dies zu erreichen, ist eine Postwachstumsgesellschaft hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. Und auch die Postwachstumsdebatte kann aus dem Diskurs um eine Chemiewende wichtige Schlüsse ziehen: So wird im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs einerseits oft vernachlässigt, dass Erdöl nicht nur eine fossile Energie- sondern auch eine Rohstoffquelle ist, von der es sich zu emanzipieren gilt. Zudem erinnert uns die chemische Betrachtungsweise daran, dass nicht nur der allseits präsente Klimawandel, sondern ebenso andere planetare Grenzen und Umweltverschmutzung nicht minder unsere Aufmerksamkeit benötigen. Aus Sicht der Verteilungsgerechtigkeit wiederum bietet eine Chemiewende zusätzliche Chancen: so ist beispielsweise der vermehrte Einsatz pflanzlicher Rohstoffe um einiges schwieriger monopolisierbar als die Förderung fossiler Rohstoffe. Die Autoren sind der Überzeugung, dass durch diese neue Art der Chemie lokale, geschlossene Stoffkreisläufe und damit eine Dezentralisierung, Regionalisierung und Demokratisierung der Wirtschaft, sowie mehr Autonomie und Verteilungsgerechtigkeit ermöglicht wird. Für eine Postwachstumsgesellschaft kann dies nur förderlich sein.
Fischer, Hermann / Appelhagen, Horst. 2017. Chemiewende. Von der intelligenten Nutzung natürlicher Rohstoffe. München: Kunstmann Verlag.