Hier geht es zum ersten Teil des Artikels.
Eine gekürzte Fassung des Beitrags ist am 30. April 2025 im Makronom erschienen.
Wachstum, Aufrüstung und Sicherheit
„Stärke ist die Voraussetzung für Frieden.“ (47). Wer also militärisch schwach ist, ermuntert potenzielle Angreifer. Daher soll so schnell wie möglich „Wehrfähigkeit“ hergestellt werden – auf der Grundlage einer starken Wirtschaft. Daher kommt es auch unter militärischem Aspekt auf die Stärkung des Wachstums an. Dabei ist die Zeitschiene entscheidend. Wie lange wird es dauern, bis „Wehrfähigkeit“ hergestellt ist? Mehr Finanzmittel sind notwendig aber nicht hinreichend für „Wehrfähigkeit“; wenn das „Personal“ (Soldaten) und der (Verteidigungs-/Kampfes-)Wille fehlen, nützen die Beschaffungen nur der Rüstungsindustrie.
Nach dem US-Rückzug ist Deutschland mit einem strategischen Dilemma konfrontiert: Das Land ist militärisch schwach. Bis „Abschreckungswirkung“ und „Wehrfähigkeit“ erreicht sind, wird es noch Jahre dauern. Bis dahin steht Deutschland (und andere europäische Staaten) weitgehend schutzlos da. Das weiß auch der potenzielle Aggressor Putin. Für ihn stellt sich die Frage des optimale Angriffszeitpunkts. Der würde in nicht allzu ferner Zukunft liegen, d.h. bevor Deutschland (EU) eine abschreckende Wehrfähigkeit erreicht hat oder/und in den USA ein Richtungswechsel erfolgt (und Putin selbst noch „jung“ genug ist). Der deutschen Aufrüstungsstrategie liegt aber (implizit) die Annahme zugrunde, dass Putin nicht zeitnah angreifen wird. Möglicherweise ist sein Expansionsdrang geringer als in der deutschen (europäischen) Strategie unterstellt. Auch in diesem Fall wäre die Aufrüstung eine sinnlose Mittelverschwendung.
Weil die deutsche Aufrüstungsstrategie inkonsistent ist bzw. auf „heroischen“ Annahmen beruht, ist zu fragen, welche anderen strategischen Optionen es gäbe. Zwei Möglichkeiten wären zu prüfen:
- Was könnte Putin von einem Angriff abhalten? Der ökonomischen Logik folgend, dass (alles) jeder seinen Preis hat, könnte die deutsche (europäische) Milchkuh Zahlungen von z.B. 100 Mrd. € p.a. anbieten. Dafür können wir weiterleben/-wirtschaften wie bisher, und Putin wird die ergiebige Milchkuh nicht schlachten. Risiko: Irrationale Führer „opfern“ auch heilige Kühe.
- Wie könnte Trump (US-Regierung) für eine Fortsetzung der Schutz-Garantie gewonnen werden? Auch da könnten 100 Mrd. € p.a. hilfreich sein (Deal) – zu zahlen an die wirksam-abschreckende Schutzmacht. Risiko: Glaubwürdigkeit der US-Vertragstreue.
Beide Möglichkeiten werden wegen ihrer hohen Risiken nicht ernsthaft diskutiert. Allerdings ist das Risiko des Scheiterns der dominierenden Aufrüstungs-Strategie kaum geringer – auch weil die Arbeiten an einer unabdingbaren europäischen Sicherheitsstrategie zu langsam vorankommen.
Perspektiven
(1) Ökonomische Grundlage und strategischer Kern des Koalitionsvertrags ist die Annahme, dass die Überwindung der Wachstumsschwäche gelingen wird. Das Wachstumsversprechen wird aufrechterhalten, die Wachstumserwartungen weiter genährt. Einen Plan B, der sich mit Wohlstand ohne Wachstum, mit Lebensstilen und Suffizienz befasst, existiert nicht. Hier besteht eine nicht unerhebliche strategische Lücke und vielleicht wäre dazu eine (weitere) Expertenkommission sinnvoll.
(2) Es wird eine (jahrelange) Vernachlässigung der Infrastruktur diagnostiziert, die nun durch eine signifikante Erhöhung der Staatsausgaben beendet werden soll. Eine schlüssige Priorisierung und Kriterien dafür fehlen allerdings – ersatzweise wird die Litanei „Brücken-Kindergärten-Schulen“ verwendet.
(3) Die Erhöhung der Staatsausgaben soll durch Kredite finanziert werden. Das ist politisch bequem, ökonomisch aber nicht zwingend: 500 Mrd. € verteilt auf 12 Jahre, d.h. 41,7 Mrd. € p.a. wäre auch anders (verantwortungsvoll) finanzierbar: Kredite von 0,35% des BIP plus ca. 30 Mrd. € p.a. aus der Kürzung von Ausgaben (insbes. umweltschädlicher Subventionen wie Agrardiesel, Pendlerpauschale) plus moderate Steuererhöhungen, die zugleich ein Beitrag zu sozialer Gerechtigkeit sein können (Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer).
(4) Die Kreditfinanzierung der Aufrüstung ist grundsätzlich vertretbar. Ohne die Festlegung eines Höchstbetrags (Obergrenze), wird aber die Ausgabendisziplin torpediert und die Rüstungsindustrie zum Griff in die Staatskasse eingeladen.
(5) Die geplante Aufrüstung leidet an einer grundlegenden strategischen Inkonsistenz: Der Status „wehrfähig“ wird erst in einigen Jahren erreicht (evtl. erst 2029). Der amerikanische Schutzschild ist aber bereits jetzt verloren und Deutschland steht weitgehend schutzlos da. Wenn Putin seine aggressive Expansionspolitik fortsetzen will, wäre sein Angriff in naher Zukunft zu erwarten – bevor Deutschland (Europa) wehrfähig ist. „Aufrüstung“ ist also eine riskante strategische Option. Es müssten auch andere strategische Optionen diskutiert werden (in die 100 Mrd. € p.a. fließen könnten).
(6) Weil nun Wirtschaftswachstum und Sicherheit an der Spitze der politischen Prioritätenliste stehen, stehen Umwelt-/Klimaschutz unter „Wachstumsvorbehalt“. Damit werden höhere (Anpassungs-, Schadens-)Kosten in der Zukunft in Kauf genommen. 100 Mrd. € verteilt auf 12 Jahre (8,3 Mrd. € p.a.) ändern daran wenig. Den strategischen Fehler macht (leider) nicht nur Deutschland. Innerhalb von wenigen Jahren ist die Menschheit auf einen desaströsen Entwicklungspfad geraten.
Fazit
Die Koalitionäre haben einen „Weckruf“ gehört und „einen Reformplan entwickelt“ (55). „Wir sorgen für einen handlungsfähigen Staat“ (53), vor allem durch massive Ausweitung der Kreditfinanzierung. Ein signifikanter, disruptiver „Politikwechsel“ ist im KV nicht erkennbar, wenig von der Aufbruchsstimmung einer „Fortschrittskoalition“. Verantwortung für ein mehrdimensionales Krisen-Management steht im Vordergrund. Viel Zeit für Visionen war nicht. Die dürfen allerdings auch nicht von KVs erwartet werden, sondern viel eher von der Zivilgesellschaft, von Wissenschaft, Kunst und Kultur mit ihren vielfältigen Narrativen und Projekten. Politik muss es unterlassen, diese Institutionen und Akteure zu bedrohen und zu marginalisieren, sei es durch Kürzung finanzieller Mittel oder durch Einschränkung von Beteiligungs- und Mitspracherechten. Der KV ist Ausdruck eines Staatswesens, das weder die Kraft hat, Ausgaben zu kürzen noch den Mut, Steuern zu erhöhen, das daher massiv zum Schuldeninstrument greifen muss, damit aber nicht überlebensfähig ist. Alle Hoffnung auf höheres Wirtschaftswachstum zu setzen, ist unrealistisch und unverantwortlich.