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Die ökonomische Logik des Wirtschaftswachstums

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Der Deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission „Wirtschaftswachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eingesetzt. Neben einem neuen Wohlstandsindikator als Alternative zum klassischen Bruttoinlandsprodukt soll die Kommission auch grundlegende Fragen von Notwendigkeit und Nachhaltigkeit wirtschaftlichen Wachstums erörtern. Dazu ein Kommentar von Thomas Seltmann

Wirtschaftswachstum ist notwendig, darüber herrscht Konsens hinweg über die Grenzen von Parteiprogrammen, Ökonomieschulen und über die klassische Frontlinie zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die einzige Kritik am Wachstum kommt aus der ökologischen Ecke und selbst dort ist man sich uneins, ob nachhaltiges Wirtschaften nicht doch mit Wirtschaftswachstum vereinbar wäre.

In der Tagespolitik wird das Wachstum als Ausweg propagiert – nicht nur aus wirtschaftlichen Krisen und Nöten – oder sogar als alternativlos postuliert. Alles werde gut, wenn wir nur für genügend Wirtschaftswachstum sorgen. Warum ist Wirtschaftswachstum derart populär? Woher kommt der in dieser Frage bombenfeste Konsens zwischen diametral gegensätzlichen gesellschaftlichen Milieus?

Was wächst denn, wenn die Wirtschaftsleistung wächst? Es wächst die Menge an realen Gütern, also die in einem Jahr produzierten und verbrauchten Waren und Dienstleistungen, egal ob Haareschneiden, Kartoffeln, Fernsehgeräte oder neue Autobahnkilometer.

Die Wirtschaftsleistung, das ist aber auch der monetäre Gegenwert für den Kauf dieser Güter, also das Geld, das sich in dieser Form aufteilt:

  • Einerseits in Form von Löhnen, Gehältern, Provisionen und Unternehmerlöhnen – also die Erträge aus konkreten Arbeitsleistungen.
  • Andererseits Zinsen, Dividenden, Gewinnausschüttungen, also die Renditen der Geldanleger in Aktien, Fonds- und Unternehmensanteilen, Spareinlagen und Wertpapieren – also die Erträge aus dem Besitz von Vermögen.

Soweit herrscht noch Einigkeit in der Wirtschaftswissenschaft und diese Aufteilung wird durch mehr oder weniger plausible Erklärungsversuche untermauert. Der Mantel des Schweigens hüllt sich dann allerdings über die Tatsache, dass in einer sich entwickelnden Volkswirtschaft im Lauf der Zeit die Anteile der zweiten Gruppe immer größer werden. Dabei erklärt sich diese Entwicklung mit dem kleinen Einmaleins: Tatsächlich konsumieren die Vermögenden ihre Erträge nicht, sondern legen sie zusätzlich renditetragend an. Deshalb wächst das renditesuchende Anlagevermögen längst schneller als die Wirtschaftsleistung. Wenn das so ist, müssen aber auch die Einkommen aus Renditen und ihr Anteil am Volkseinkommen immer größer werden. Für Einkommen aus Arbeit bleibt dann einfach weniger übrig.

Mit Wirtschaftswachstum lässt sich diese Problematik in gewissem Umfang und eine Zeit lang kaschieren und umgehen. Wir erleben das etwa seit den 1980er Jahren. Seitdem nutzt das Wirtschaftswachstum immer weniger der Lebensqualität der Menschen, sondern dient vor allem dem Umgehen des Verteilungskonfliktes. Langfristig treten die negativen Folgen dieser Scheinlösung aber offen zutage, beispielsweise durch die ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstums.

Natürlich lässt sich dieser Zusammenhang nicht bestreiten. Dennoch wird er seltsamerweise sowohl von der Wirtschaftswissenschaft wie auch von der Politik übersehen und ignoriert. Schließlich könnte man doch einmal fragen, warum es so sein muss, dass sich bei steigender Wirtschaftsleistung zwar die Arbeitseinkommen kürzen lassen, aber die Einkünfte aus angelegten Vermögen „uneingeschränkt gezahlt werden müssen“, wie es ehemalige „Wirtschaftsweise“ unter den Ökonomen standfest erklären. Wenn dem Anlagekapital erst noch die „Arbeitslosigkeit“ droht, schnüren Regierungen sogar eilends Rettungspakete und spannen Rettungsschirme über die bedrohten Vermögen, ohne diese selbst in Haftung zu nehmen. Geraten dagegen Menschen in Arbeitslosigkeit – präziser wäre „Einkommenslosigkeit“ – zahlt der Sozialstaat die Rettung aus Beiträgen und Steuern der noch verbleibenden Arbeits-Einkommensempfänger.

All das findet statt in einer Marktwirtschaft, in der sich Machtverhältnisse in Form von Angebot und Nachfrage gegenüber stehen. Offensichtlich hat die Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums nicht nur etwas mit der Verteilungsfrage zu tun, sondern auch mit einer ungleichen Wettbewerbsposition zwischen den Beziehern von Einkommen aus Leistung und den Beziehern von Einkommen aus Vermögen. An deren zahlenmäßiger Übermacht kann es nicht liegen, denn nach der Statistik beziehen nur wenige Prozent der Bundesbürger ihre Einkünfte vor allem aus Kapitalerträgen. Es muss also eine andere Erklärung geben für diese prinzipielle Vorrangposition des Geldes über die Arbeit.

Gesucht wird keine Ideologie und kein anderes Menschenbild. Mit Gier und moralischer Verderbnis lässt sich alles und nichts erklären. Und Appelle für ein anderes individuelles Denken und Handeln ändern kein finanzwirtschaftliches System, das nicht Naturgesetzen folgt, sondern dessen Konstruktion und Regeln von Menschen geschaffen wurden und geändert werden können. Die etablierte Wirtschaftswissenschaft und Politik hat bisher offensichtlich nach der Erklärung und möglichen systemischen Korrekturen weder gesucht noch sie gefunden. Es wäre an der Zeit, dieses Versäumnis nachzuholen. Die neue Enquete-Kommission des Bundestages bietet dafür eine gute Gelegenheit.

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