Standpunkte

Die Europawahl und der Wachstumskonflikt (I)

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Wachstumskritik in der Defensive

Aus Postwachstumsperspektive sind die Ergebnisse der Europawahl 2024 mehr als ernüchternd. Wer tatsächlich geglaubt haben mag, die sehr gut besuchte und viel beachtete „Beyond Growth“-Konferenz im Europäischen Parlament 2023 sei ein Anzeichen für einen Aufschwung der Wachstumskritik in Brüssel und kündige mögliche Schwenks hin zu Postwachstumspolitiken an, sollte sich nun unsanft auf den harten Boden einer Wirklichkeit zurückgeholt sehen, in der leider ganz anderes auf der Agenda steht. Selbst der zentral auf marktliche und technologische Lösungen setzende Green Deal der von der Leyen-Kommission, in dem nur wachstumsorientierte Polemiker in kritischer bis diffamatorischer Absicht Degrowth-Elemente ausmachen zu können meinten, wird in den kommenden Jahren von den nun deutlich gestärkten radikal bis extrem rechten Parteien im Parlament stark unter Beschuss genommen werden. Einigungen auf ambitioniertere klimapolitische Maßnahmen rücken in weite Ferne, weil quer durchs politische Spektrum die Bewältigung der wirtschaftlichen Krisen und des wachsenden Unmuts durch wirtschaftliches Wachstum alle anderen Ziele zunehmend aussticht. Fast überall gewannen konservative und rechte Kräfte hinzu, die den Menschen versprechen, die krisengeschüttelte Welt durch wirtschaftlichen Aufschwung, nationale Stärke und Abschottung nach außen wieder in Ordnung zu bringen, während liberale und vor allem grüne Parteien erheblich verloren. Das Taktieren und die punktuelle strategische Blockade ökologischer Reformschritte zusammen mit den ultrarechten Fraktionen, in der sich die konservative EVP in den letzten Monaten schon mehrfach geübt hat, droht unter den neuen Mehrheitsverhältnissen in eine grundsätzliche Abkehr von klima- und umweltpolitischen Zielen zu münden.

In Deutschland führte die von Ängsten angesichts multipler Krisen sowie geopolitischer Spannungen und von politisch herbeigeführten Sparzwängen geprägte Stimmung zu massiven Stimmenverlusten bei den Regierungsparteien SPD und Grüne (nicht aber bei der für die staatliche Handlungsunfähigkeit zentral verantwortlichen FDP), zu einer Stärkung der Unionsparteien und zu starkem Zulauf für die extrem rechte AfD sowie das neugegründete sozialkonservative „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW). Wie in vielen Ländern setzt sich damit auch hierzulande eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems fort, die sich in den Mentalitäten der Bevölkerung schon länger verfolgen lässt.

Ein Indiz hierfür ist, dass in den Nachwahlbefragungen von infratest dimap bei den für die Wahlentscheidung ausschlaggebenden Themen „Umwelt- und Klimaschutz“ nur noch von 14 Prozent der Befragten genannt wurde – neun Prozentpunkte weniger als 2019. Die Nennung von „Wirtschaftswachstum“ als zentralem Anliegen dagegen stieg um drei Punkte auf 13 Prozent – besonders stark unter den Anhänger:innen von Union (20%, +8 Prozentpunkte) und AfD (12%, +10 Punkte). Die gleiche Stimmung schlägt sich auch darin nieder, dass die Anteile der Wählenden, die sich große Sorgen machen, zu fast allen erfragten Themen (Kriminalität, Migration, Krieg, wirtschaftliche Unsicherheit…) im zweistelligen Prozentbereich zugenommen haben – außer beim Thema Klima: hier erklärten sich 11% weniger als 2019 für besorgt.

Kritik an den Steigerungszwängen moderner kapitalistischer Gesellschaften ist also gegenwärtig stark in der Defensive, und zwar gerade aufgrund der multiplen Krisendynamiken, die aus diesen Steigerungszwängen selbst resultieren. Aber bedeutet das, dass sich die ganze Bevölkerung immer weiter von wachstumskritischen Sicht- und Denkweisen entfernt – und wie lässt sich das mit der immer noch hohen grundsätzlichen Befürwortung von Klimaschutz und der starken Bejahung proökologischer Positionen in Umfragen zum Umweltbewusstsein vereinbaren? Ist die Lage wirklich so düster, wie all das nahe legt? Zu diesen Fragen hält das Wahlergebnis in seinen Details durchaus einige wichtige Einsichten bereit, wenn wir es durch die Brille von Forschungsergebnissen über sozial-ökologische Mentalitäten in der Bevölkerung lesen. Aus dieser Perspektive haben wir es weniger mit einer allgemeinen Abkehr von Klimaschutz und Wachstumskritik zu tun als mit Positionswechseln und Neugruppierungen ganz bestimmter Bevölkerungsteile in einem mehrdimensionalen sozialen Konflikt um Fragen von sozial-ökologischer Transformation.

Ich will in diesem Post zunächst kurz den Rahmen umreißen, in dem wir diese Verschiebung in der Forschung der Nachwuchsgruppe flumen soziologisch zu verstehen versuchen, um dann in einem zweiten Teil drei zentrale Probleme zu skizzieren, die sich aus einer wachstumskritischen politischen Sicht aus dem Wahlergebnis und seinen gesellschaftlichen Implikationen ergeben: (I) Die Instabilität des ökosozialen Mentalitätsspektrums und seine (erneut) zunehmende gesellschaftliche Isolierung, (II) die schnell voranschreitende Annäherung des konservativ-steigerungsorientierten an den defensiv-reaktiven, autoritären Teil der Bevölkerung und (III) den Aufstieg einer sozialautoritären Kraft, die mit ihrer rückwärtsgewandten Wachstumsorientierung den konservativ-autoritären Trend verstärkt, statt ihn abzuschwächen.

Der sozial-ökologische Transformationskonflikt

Wenn wir uns die kapitalistische Wachstumsgesellschaft als nicht nur durch die vertikalen Gegensätze zwischen den am Wachstum aktiv Mitwirkenden und davon profitierenden Akteuren (oben) und den ihm Ausgelieferten und abhängig Eingebundenen (unten) strukturiert vorstellen, sondern auch, quer dazu, durch die von Postindustrialisierung, Wissens- und Bildungsexpansion hervorgebrachte Spannung zwischen Integration in dieselbe über Teilhabe an Wissen (links) oder materielles Eigentum (rechts), dann ist mit diesen beiden Dimensionen der soziale Raum der Wachstumsgesellschaft beschrieben. Entlang beider Achsen dieses Raums (und seiner Diagonalen) führen das Wachstum und seine Krisen zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerungsteilen mit gegensätzlichen Interessen: In der Vertikalen um die Fortsetzung oder Infragestellung der abstrakten gesellschaftlichen Steigerungsdynamik in ihrer aktuellen Form (Abstraktionskonflikt), in der Horizontalen um Ausgestaltung, Prinzipien und Wandel oder Konservierung alltäglicher Praxismuster (Lebensweisekonflikt). Und in diesem Rahmen zeigen unsere Befunde aus einer zur Zeit der letzten Bundestagswahl erhobenen repräsentativen Umfrage, dass sich die Gegensätze entlang beider Dimensionen auch in den grundsätzlichen Sichtweisen und Haltungen unterschiedlicher Bevölkerungsteile zu Fragen von sozial-ökologischer Transformation niederschlagen.

 

Abb. 1: Mentalitätstypen und -spektren im sozialen Raum, Ende 2021 (Quelle: Repräsentativbefragung BioMentalitäten)

Auf dieser Ebene beschreiben wir den Konflikt als „Dreiecksbeziehung“ dreier Spektren von sozial-ökologischen Mentalitäten (Abb. 1):

  • Ein ökosoziales, grundsätzlich transformationsfreundliches Spektrum (ca. 25% der Befragten), das sozial-ökologischen Wandel positiv sieht oder aktiv einfordert, die Steigerungslogik tendenziell kritisch betrachtet und zumindest verbal an Veränderungsbereitschaft im eigenen Leben festhält. Es hat seinen sozialen Schwerpunkt im Bereich der qualifizierten Wissensarbeit im oberen linken Raum.
  • Ein konservativ-steigerungsorientiertes Spektrum (ca. 37%), das im Zwiespalt zwischen anerkannter Transformationsnotwendigkeit einerseits und dem Wunsch nach Fortsetzung der eigenen gewohnten Lebensweise andererseits in jüngster Zeit zunehmend dazu übergeht, sich klar für letzteren zu entscheiden, also der Kontinuität der wachstumsabhängigen Lebensweise Priorität zu geben. Diese Mentalitäten sind vor allem in Lagen materiellen Wohlstands und technischer oder organisationaler Tätigkeiten in der Privatwirtschaft rechts im Raum verbreitet.
  • Und ein defensiv-reaktives Spektrum (ca. 25%), in dem nicht nur die jüngsten Krisen, sondern auch schon die sie treibenden Steigerungsdynamiken als überfordernde, überlastende, entfremdende Zumutungen erlebt und als solche zunehmend wütender abgewehrt oder mit resigniertem Rückzug aus der Gesellschaft beantwortet werden. Diese Wahrnehmungen und Haltungen sind im unteren sozialen Raum bestimmend.

Der horizontale Lebensweisekonflikt spielt sich damit in erster Linie zwischen den ökosozialen und konservativ-steigerungsorientierten Spektren ab, der vertikale Abstraktionskonflikt hauptsächlich zwischen dem defensiv-reaktiven und Teilen beider anderen Spektren.

Abb. 2: Schwerpunkte der Wähler:innenschaften der Parteien im sozialen Raum, Ende 2021 (Quelle: Repräsentativbefragung BioMentalitäten)

Mentalitäten übersetzen sich nicht direkt in politische Einstellungen oder Wahlverhalten, dennoch lassen sich grobe Zuordnungen zwischen den Spektren und den in ihnen bevorzugten Parteien vornehmen. Dies lässt sich an der räumlichen Verortung der Mittelpunkte der Wähler:innen der verschiedenen Parteien nachvollziehen (Abb. 2). Es handelt sich hier, wie gesagt, um das Bild vom Herbst 2021, also die Konstellation, in der die Ampel eine Regierungsmehrheit errang. Erkennbar sind im Abgleich mit Abb. 1 deutliche wechselseitige Nähen zwischen den Grünen (sowie eingeschränkt der Linken) und dem ökosozialen, zwischen FDP, Union und SPD und dem konservativ-steigerungsorientierten sowie zwischen der AfD und dem defensiv-reaktiven Spektrum. Was lässt sich aus den Wahlergebnissen darüber ableiten, wie sich diese Konstellation derzeit verändert, und was verheißt das für die nähere Zukunft?

Diesen Fragen gehe ich im zweiten Teil des Artikels nach, indem ich drei aus Postwachstumssicht problematische Trends im sozialen Raum näher beleuchte, die sich aus den Wahlergebnissen ablesen lassen.

Prof. Dr. Dennis Eversberg Soziologie mit dem Schwerpunkt Umweltsoziologie an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Zuvor leitete er die Nachwuchsgruppe "Mentalitäten im Fluss. Vorstellungswelten in modernen bio-kreislaufbasierten Gesellschaften" am Institut für Soziologie der FSU Jena. Von 2012-2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena und forschte unter anderem zur Degrowth-Bewegung.

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