Neues aus der Wissenschaft

Die Entwicklung der Pluralen Ökonomik

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Seit knapp zwei Dekaden hat sich mit der Pluralen Ökonomik eine Strömung innerhalb der Volkswirtschaftslehre etabliert, die für neue Formen und Inhalte der ökonomischen Wissensproduktion steht. Als institutioneller und intellektueller Ausgangspunkt fungiert das von Studierenden in den 2000er-Jahren gegründete Netzwerk Plurale Ökonomik, das seitdem auf die Einseitigkeit in Forschung, Lehre und Politikberatung aufmerksam macht. Diese Einseitigkeit bezieht sich dabei auf die Dominanz des sogenannten Mainstream-Paradigmas, dessen Kern in einer Fokussierung auf mathematische Modellierung, quantitative Methoden und einer allzu harmonischen Betrachtung kapitalistischer Marktökonomien. Zu diesem Mainstream zählen neben eher neoklassisch- und neukeynesianisch-geprägten Ansätzen in Mikro- und Makroökonomik mittlerweile auch die Verhaltensökonomik oder die experimentelle Ökonomik. Heterodoxe Paradigmen, die sich von dieser Perspektive auf Wirtschaft und Wissenschaft grundlegend unterscheiden (z.B. Postkeynesianismus, Feministische Ökonomik), sind in der Volkswirtschaftslehre dagegen kaum noch vertreten. An den Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind dies gerade einmal 3,15 Prozent aller Professor:innen für Volkswirtschaftslehre. [1] Zudem ist an den ehemaligen Hochburgen heterodoxer Ökonomik (Bremen, Hamburg, HWR Berlin) seit einigen Jahren und Jahrzehnten eine institutionelle Abwicklung dieser Forschungstraditionen zu beobachten. Darüber hinaus können an den großen, deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten (z.B. ifo oder DIW) lediglich 4,4 Prozent aller Ökonom:innen als heterodox zu klassifiziert werden. [2] Daher ist einerseits die wirtschaftswissenschaftliche Lehre in aller Regel durch neoklassische Theorie, mathematische Modellierung und fehlendem Realitätsbezug sowie die Fokussierung auf ökonomische Standardlehrbücher charakterisiert. [3] Andererseits ist somit auch die Diagnose der Einseitigkeit auch für die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung der 2000er- und frühen 2010er-Jahre eine treffende Umschreibung. Der wirtschaftspolitische Diskurs ist – insbesondere im Zuge von Finanz- und Eurokrise – durch ordo- und neoliberale Argumentationsmustern und Positionen dominiert gewesen. [4]

Das Anliegen der Pluralen Ökonomik liegt nun aber nicht nur in der Forderung begründet, auch heterodoxe Paradigmen einen Platz in der Volkswirtschaftslehre und Politikberatung einzuräumen. Vielmehr impliziert Plurale Ökonomik ebenso einen gleichberechtigten Zugang aller Paradigmen zu den relevanten Ressourcen und Institutionen der Disziplin sowie die symbolische und reflexive Anerkennung des intellektuellen Mehrwerts, der aus Integration bisher marginalisierter Paradigmen für die Volkswirtschaftslehre erwächst.

Trotz der skizzierten Einseitigkeit der Volkswirtschaftslehre sind in den vergangenen Jahren durchaus erkennbare Erfolge der Pluralen Ökonomik zu beobachten gewesen. So sind an staatlichen Universitäten, einige Professuren, Studiengänge und Institute im Bereich der Pluralen Ökonomik entstanden (Duisburg, Siegen, Flensburg, Linz). Gemein ist allen Standorten dabei die Zielsetzung, die tatsächliche Pluralität der Volkswirtschaftslehre auch in Forschung und Lehre Wirklichkeit werden zu lassen bzw. auf die Auswirkungen der fehlenden Pluralität der Disziplin kritisch hinzuweisen. Daneben hat sich mit der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz eine Hochschule gegründet, die sich in ihrem Selbstverständnis durch einen reflexiven Zugang zu Ökonomie und Ökonomik auszeichnet.

Die Erfolge der Pluralen Ökonomik zeigen sich aber insbesondere abseits der etablierten Orte der Wissensproduktion (Universitäten und Forschungsinstitute). Mit dem ZOE-Institut, dem Dezernat Zukunft oder Fiscal Future sind beispielsweise Think Tanks entstanden, welche die Debatte über Wirtschaft und Wirtschaftspolitik merklich verändert haben, indem sie dem naiven Glauben an die unumstößliche Überlegenheit freier Märkte mit klugen Analysen und Positionen gegenübertreten. Auch die etablierten Institutionen der klassischen Politikberatung zeigen in diesem Zuge mittlerweile wesentlich pragmatischere Tendenzen hinsichtlich der Ausgestaltung von Wirtschaftspolitik in Zeiten multipler Krisen. So plädiert auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung für eine Reform der Schuldenbremse, damit der Staat notwendige Investitionen in Wirtschaft und Gesellschaft auf den Weg bringen kann. Zudem treten Ökonom:innen immer häufiger auch mit Ideen einer grünen Industriepolitik in die wirtschaftspolitische Debatte ein.

Ob mit den bisher erzielten Erfolgen der Pluralen Ökonomik und den wirtschaftspolitischen Impulsen der wirtschaftswissenschaftswissenschaftlichen Politikberatung allerdings eine sozial-ökologische Transformation erreicht werden kann, wie sie ja gerade auch von vielen Postwachstums-Vertreter:innen gefordert wird, muss an dieser Stelle allerdings erheblich in Zweifel gezogen werden. So ehrenwert und wichtig die Etablierung pluraler Standorte inner- und außerhalb der Wissenschaft auch sein mag, so überwältigend ist doch weiterhin die Dominanz tradierter Institutionen der ökonomischen Wissensproduktion. Dass diese Institutionen wohl kaum „eine andere Gesellschaft und die systemische Transformation, die diese voraussetzt“ – von der beispielsweise Matthias Schmelzer und Andrea Vetter im Hinblick auf Postwachstums-Bestrebungen sprechen [5] – im Sinne haben, wenn von einer Transformation der Wirtschaft die Rede ist, zeigt, dass die Pluralisierung der Volkswirtschaftslehre auch für die Postwachstums-Bewegung von zentraler Bedeutung ist.

 

Quellen

[1] Kapeller, J., Pühringer, S. und Grimm, C. (2022): Paradigms and policies: the state of economics in the German-speaking countries. Review of International Political Economy, 29 (4), 1183-1210.

[2] Reinke, R. (2024): Economics in Germany: About the unequal distribution of power. Journal of Economic Issues, 58 (1), 302-326.

[3] Bäuerle L., Pühringer S. und Ötsch, W.O. (2020): Wirtschaft(lich) studieren. Springer VS, Wiesbaden.

[4] Plehwe D., Neujeffski M. und Nordmann J. (2024): Schlecht beraten? Die wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Kritik. OBS-Arbeitspapier 65.

[5] Schmelzer, M. und Vetter, A. (2019): Degrowth/Postwachstum. Zur Einführung, Hamburg: Junius.

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