Standpunkte

Die Degrowth-Bewegung ist bunt, kreativ und intelligent – aber noch wenig aktivistisch

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Degrowth-Konferenzen sind nicht nur spannend, weil dort ganz drängende Fragen unserer Zeit mit meist sympathischen Menschen in bunter Zusammenkunft aus Süd, Ost und West diskutiert werden. Sondern auch, weil dort unterschiedliche Formate und Herangehensweisen, wie gesellschaftlicher Wandel ins Werk gesetzt werden können, unter einem Dach diskutiert werden.

In Budapest, wie auch zwei Jahre zuvor auf der Konferenz in Leipzig, waren vor allem viele Wissenschafter/innen vertreten, die angewandte Forschung vorantreiben wollen. Reichlich vertreten sind ebenfalls Vertreter/innen zivilgesellschaftlicher Organisationen – aus Bildungswerkstätten, Umwelt-NGOs, Stiftungen, entwicklungspolitischen Netzwerken, verschiedensten Gruppierungen der so genannten ‚Mosaik-Linken’ und vielen anderen. Daher gibt es – zur Auflockerung leider manchmal dröger akademischer Sessions, in denen mehrere unzusammenhängende Papers in teils abgelesenen Vorträgen heruntergerattert werden – auch etliche diskursive Sessions, die Strategien für neue Allianzen, Öffentlichkeits- und Medienarbeit oder politische Kampagnen erörtern.

Und dann versammelt Degrowth auch etliche Aktivist/innen von Graswurzel-Organisationen, NGOs, Bewegungen oder Netzwerken, die ihre Arbeit auf Demonstrationen, Proteste, Sit-Ins, Carrot Mobs und anderen Formen des zivilen Ungehorsam ausrichten, um Politik oder Konzerne zu beeinflussen. Abgesehen von der Tatsache, dass manche/r Teilnehmer/innen ganz offensichtlich Wissenschaftler/in und Aktivist/in in ‚Personalunion’ sind, waren aktivistisch orientierte Fragen allerdings noch eine Randerscheinung auf der Degrowth-Konferenz in Budapest. Im Programm überwogen inhaltliche Paper-, Buch- oder Diskussions-Sessions – und dies selbst auf der so genannten „Degrowth-Week“, die parallel zur Konferenz ablief und u.a. Ausflüge zu Urban-Gardening Projekten, Workshops in Maker-Laboren, psychodynamische Selbsterfahrungs-Sessions und anderes Abwechslungsreiches angeboten hat. In der Session „Leave it in the Ground! Degrowth, resource struggles and direct actions against coal”, die am Freitag, den 2.9.2016 stattfand, wurde am Beispiel von Kohleprotesten deutlich, dass in der Degrowth-Bewegung die Theoretiker/innen noch bei weitem über die PraktikerI/innen dominieren.

In drei Vorträgen wurden zunächst Erfahrungen über Kohleproteste in unterschiedlichen Regionen gesammelt. Matthias Schmelzer vom Konzeptwerk Neue Ökonomie, auf den die Idee der Session „Leave it in the Ground!“ zurückgeht, hat aus Deutschland berichtet. Nach der 2014er Degrowth-Konferenz in Leipzig haben er und Kolleg/innen Strategien diskutiert, wie Degrowth stärker an Bewegungen angedockt und mit konkreten Aktionen verknüpft werden könnte. Auf den „Degrowth Summer Schools“ im Sommer 2015 und 2016 wurden daraufhin Bildungs- und Diskussion-Sessions systematisch mit Aktions-Trainings und der Vorbereitung jeweils einer großen Aktion vor Ort verschränkt. Die Summer Schools waren ein voller Erfolg. Und die Teilnehmer/innen der Degrowth Summer Schools konnten gleichsam für die intellektuellen Debatten der Bewegung als auch für das aktivistische Engagement begeistert werden – mit allen Risiken polizeilicher Registrierung oder gar Gewalt. Allerdings: Die beiden Anti-Kohle-Aktionen waren nicht primär Degrowth-Veranstaltungen sondern wurden von verschiedenen Gruppierungen und Netzwerken der Climate-Justice-Bewegung, der Umweltszene, der Linken vorbereitet und geleitet, unter der Ägide von „Ende Gelände“. Letztlich war also die Summer School Degrowth, die Demo aber ein Gemeinschaftswerk. Fraglich, wie viele der Demonstrant/innen sich also als Teil der Degrowth-Bewegung oder eher als Teil anderer Bewegungen und Schattierungen verstanden haben.

Der zweite Input brachte Erfahrungen aus Osteuropa. Monika Matus ist für 350.org und die GCCA (Global Call for Climate Action) unterwegs und hat über Aktionen in den Kohlerevieren Polens berichtet. Aber obwohl Monika eine langjährige Klima-Aktivistin ist, versuchen sie und ihre Kolleg/innen bei Protesten vor Ort das Klimathema außen vor zu lassen. Stattdessen argumentieren sie mit Gesundheit, Wasserschutz oder (lokaler) Luftverschmutzung. Zu groß sei bei einigen die Klima-Skepsis, zu abstrakt erschiene anderen das Phänomen der Erderwärmung. Und das Anliegen Degrowth? Das wäre dann sozusagen zwei Ebenen zu abstrakt. In Polen sei Degrowth ohnehin nur ein Nischen-Thema; an der Basis bzw. ‚auf der Straße’ aber selbst bei weiten Teilen der organisierten Zivilgesellschaft ließe sich damit kein Blumentopf gewinnen. Ähnlich äußerte sich in der Diskussion auch eine Teilnehmer/in aus Tschechien. Die Frage erübrigt sich, ob Anti-Kohle-Aktivist/innen in Osteuropa sich als Teil der Degrowth-Bewegung verstehen.

Auf Monikas Input folgte Brototi Roy, die Kohle-Proteste in Indien und Bangladesh vorstellte. Brototi ist in der Region ihrer Familie (‚The coal capital of India’) schon als Kind mit den Problemen der schmutzigen und ausbeuterischen Kohleproduktion konfrontiert worden. Nun beginnt sie eine Doktorarbeit über Kohle-Konflikte in Indien. Bei diesen Konflikten steht im Vordergrund, fruchtbares Land und lokale Ökosysteme für den Anbau von Feldfrüchten und Viehhaltung zu bewahren, die für viele Menschen oft die zentralen Lebensmittel- und Einnahmequellen darstellen. Auch die Erhaltung indigener Landrechte ist ein wichtiges Thema. Klimaschutz ist in der Zivilgesellschaft Indiens ein großes Thema. Und es gibt national arbeitende Klima-NGOs, die sich an lokalen Kohleprotesten beteiligen. Degrowth aber spielt dabei mitnichten eine Rolle. Auf dem Abend-Panel des Vortags der Degrowth-Konferenz (1.9.) hatte Ashish Kothari sogar die Frage gestellt, ob Degrowth für die Länder des globalen Südens überhaupt ein zweckdienlicher Begriff sei. In vielen Orten Indiens jedenfalls sind Anti-Kohle-Proteste – wie Juan Martinez-Allier es trefflich ausgedrückt hat – ein „Environmentalism of the Poor“, bei dem Menschenrechte das Ziel sind und Umweltschutz das Mittel. Degrowth bleibt dabei Fremdwort. Während Degrowth also (folgt man der Argumentation bsp. von Steffen Lange) eine sinnvolle Perspektive für westeuropäische Länder darstellt und hier auch regen Zulauf erfährt, scheint es für andere Regionen der Welt weder wünschenswert zu sein, noch wollen die dort lebenden Menschen es.

Insgesamt stellt sich aus der Perspektive des aktionsorientierten Umweltschutzes die Frage: Ist Degrowth überhaupt eine ausgewachsene Bewegung? Oder eher eine Bewegung im Wachsen, die zwar als Sammelbecken und für eine gemeinsame Identität verschiedenster gerechtigkeits- und umweltbewegter, kapitalismus- und entwicklungskritischer Gruppen und Organisationen bereits hervorragend funktioniert. Aber noch kaum eigene ‚Bewegung’ im Sinne konkreter Aktionen, im Sinne eines an Marx angelehnten aktivistischen „Wachstumskritiker/innen aller Länder, vereinigt Euch!“ hervorbringt. „Who are we anyway?“ war denn auch der treffliche Titel einer anderen Session in Budapest, die das Wesen der Degrowth-Bewegung zu ergründen suchte. Dennoch hat der Erfahrungsaustausch über Kohle-Proteste Mut gemacht. Vermutlich gilt das Precht’sche „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“-Prinzip der Patchwork-Identitäten in postmodernen Gesellschaften eben nicht nur für Individuen, sondern auch für soziale Bewegungen. Und tatsächlich: Was das Vernähen verschiedenster Bewegungen betrifft – das hat auch die Konferenz in Budapest wieder gezeigt – macht die Degrowth-Bewegung jede Menge Stiche! In Zukunft wäre es wünschenswert, diese Qualität noch besser mit konkreten Aktivitäten zusammen zu bringen, die durch Proteste auf der Straße gegen den nicht-nachhaltigen Status Quo sticheln…

Dr. Tilman Santarius forscht und publiziert zu den Themen Klimapolitik, Handelspolitik, nachhaltiges Wirtschaften und globale Gerechtigkeit. Seit 2016 leitet er eine Nachwuchs-Forschungsgruppe zum Thema “Digitalisierung und Nachhaltigkeit” an der Technischen Universität Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Von 2007 bis 2016 war er ehrenamtlich als Vorstand bei Germanwatch e.V. aktiv. Seit 2016 ist Tilman Santarius im Aufsichtsrat von Greenpeace engagiert. Er ist Mitautor mehrerer Bücher und hat zahlreiche Artikel zu internationaler Klimapolitik, Handelspolitik, Globalisierung und Gerechtigkeit veröffentlicht (mehr unter: www.santarius.de).

1 Kommentare

  1. Steffen Liebig sagt am 8. September 2016

    Danke für den Artikel, er enthält viele treffende Einschätzungen!
    Ich will nur ein Gedanken ergänzen: Sei es für einen Augenblick dahingestellt, ob es nun eine Degrowth- oder Postwachstumsbewegung gibt oder nicht; gegenüber anderen, teils älteren und relativ erfolgreichen sozialen Bewegungen, bspw. der Anti-Atom- oder der Frauenbewegung, fehlt der Degrowth-Perspektive meines Erachtens oft ein antagonistisches Politikverständnis und eine Gegnerorientierung im Handeln. Was meine ich damit? Soziale Bewegungen bilden sich entlang gesellschaftlicher Konflikte, sie erzielen ihre Mobilisierungsfähigkeit und organisieren sich in diesen Konflikten. Gleichzeitig ist die Gegnerorientierung aber nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, d.h. im Idealfall stellt sie einen widerständigen und wirkmächtigen Hebel dar mit dem die Gesellschaft verändert werden kann.
    Degrowth fehlt dieser Hebel weitestgehend. Gewisse Dinge nicht zu tun, bspw. energieintensiv zu konsumieren, stellt noch keinen Widerstand dar – „voluntary simplicity“ ist machtlos. Das Wachstumsprinzip ist letztlich zu abstrakt und kann als solches nicht konkret konfrontiert werden.
    Freilich geht es auch anders, das hat die erfolgreiche Verbindung von widerständigen Anti-Kohle-Aktionen, von Klimacamp und Degrowth gezeigt. Hier kristallisierte die oft abstrakte Wachstumskritik an konkreten Aktionen. Allerdings funktioniert dies noch sehr selten…
    So gelang es in Budapest – trotz der tollen sozialen und politischen Zentren, wo Abendveranstaltungen, meist Konzerte, stattfanden – leider nicht, was in Leipzig eine große Dynamik freisetzte, nämlich eine echte Bewegungskonferenz zu veranstalten, auf der wissenschaftliche und aktivistische Inhalte und Praxen verschmelzen.

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