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Der Schlüssel zum Gemeinwohl – Teil 1

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Spätestens seit den Veröffentlichungen des Club of Rome – seit fast einem halben Jahrhundert also – wissen wir um die Bedrohung der Erde durch menschliche Aktivitäten, wissen auch, dass ein Kollaps des Ökosystems unweigerlich einen Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation nach sich ziehen würde, wissen sogar, dass dieses schlimmste aller anzunehmenden Szenarien in Sichtweite gerät. Dennoch müssen nach wie vor selbst kleinste Fortschritte beim Umwelt – und Klimaschutz hart erkämpft werden – und zwar von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die in der Regel einem Pakt aus Wirtschaft und Politik gegenüberstehen.

Versagt haben hier nicht in erster Linie einzelne Regierungen oder deren Personal, versagt hat hier – ja was eigentlich? – das „Gesellschaftssystem“ oder vielmehr ein Konglomerat von Teilsystemen, welche dazu gedacht sind, die Interaktionen innerhalb menschlicher Gemeinschaften auf die eine oder andere Art zu regeln.

Betrachtet man der Einfachheit halber Gesellschaften „westlicher Prägung“, so wird eines der Teilsysteme, von denen hier die Rede ist, als Demokratie bezeichnet. Dabei stellt diese Bezeichnung in Bezug auf die meisten real existierenden Formen meiner Meinung nach einen Euphemismus dar, weil die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger*innen sich im Wesentlichen auf die Stimmabgabe bei Wahlen beschränken. Der Demokratie steht mit der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft ein weiteres Teilsystem gegenüber, dessen profitgetriebene Auswüchse einzuhegen den Regierungen derart oft misslingt, dass das Adjektiv „sozial“ ebenfalls wie eine Beschönigung wirkt.

Die mangelhafte Ausgestaltung demokratischer Systeme einerseits und die Dominanz des Marktes über die Politik andererseits gehen zu Lasten des Gemeinwohls. Warum dies so ist und auf welche Weise dies im Einzelnen geschieht, erfordert eine weitergehende Analyse und soll hier nicht Thema sein.

Vielmehr soll eine Alternative vorgestellt werden – ein Gesellschaftssystem nämlich, dessen Bestandteile sinnvoll integriert sind und zugunsten des Gemeinwohls wirken. Im Anschluss daran werde ich versuchen, einen Weg aufzuzeigen, wie wir uns aus der „Locked-In-Situation“ befreien, in der wir uns derzeit befinden. Teil des Systemfehlers ist meines Erachtens nämlich, dass Grundsatzfragen, langfristige Planungen und ganzheitliche Lösungsansätze immer wieder von der Tagespolitik verdrängt werden – was unter anderem daran liegt, dass diejenigen, denen wir zu politischer und wirtschaftlicher Macht verhelfen, keine Bereitschaft zeigen, die Gesamtkonstellation in Frage zu stellen.

Seit den 1970er Jahren gibt es das Konzept der Ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Deren Grundgedanke ist es, der Verschmutzung von Umwelt und dem Ressourcenverbrauch einen Preis zu geben, indem entsprechende Steuern erhoben werden. Weil es von diesem Zeitpunkt an profitabel ist, streben Unternehmen danach, gemeinwohlorientiert zu produzieren. Die Ökosoziale Marktwirtschaft stellt also den Marktmechanismus in den Dienst des Gemeinwohls. Sie verhindert damit, dass Unternehmen soziale oder ökologische Kosten externalisieren, also auf die Gesellschaft abwälzen.

Unter dem Namen Gemeinwohl-Ökonomie besteht nun ein Versuch zur Operationalisierung dieses Konzeptes: Indem Unternehmen dazu verpflichtet werden, die gesellschaftlichen Auswirkungen ihres Handels in Form von Gemeinwohl-Bilanzen zu dokumentieren, erhält der Staat eine Grundlage für die Besteuerung. Dabei sind die ethischen Kriterien, anhand derer die Betriebe bewertet werden, in der Gemeinwohl-Matrix dokumentiert. Sie dient den Unternehmer*innen und ihren Stakeholdern als Richtschnur für ihr Handeln.

Der Markt verfügt also über einen bisher ungenutzten Mechanismus, der im Sinne des Gemeinwohls wirken kann. Aber der eigentliche Schlüssel zum Gemeinwohl ist nicht der Markt, sondern die Demokratie!

Deshalb geht die Gemeinwohl-Ökonomie noch einen entscheidenden Schritt weiter als die Ökosoziale Marktwirtschaft: Sie übergibt die Möglichkeit der Definition dessen, was das Gemeinwohl ist, nicht gewählten Vertreter*innen, sondern belässt die Verantwortung dafür bei den Bürger*innen.

Dies geschieht, indem ein sogenannter Wirtschaftskonvent Vorschläge dazu erarbeitet,

  • nach welchen Kriterien die Unternehmen zu bewerten sind;
  • wie hoch die steuerliche Entlastung der Betriebe jeweils ausfallen soll;
  • und welche darüberhinausgehenden Rahmenbedingungen im Bereich Wirtschaft gelten.

So könnte der Wirtschaftskonvent beispielsweise vorschlagen, bestimmte Wirtschaftszweige zur Allmende zu machen oder Genossenschaften steuerlich generell gemeinnützigen Organisationen gleichzusetzen. Ein Wirtschaftskonvent wäre meiner Vorstellung nach ein direkt gewähltes oder teilweise ausgelostes Gremium, das ähnlich der Bundesversammlung aus möglichst allen relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen zusammengesetzt sein sollte. Jeweils zu den Parlamentswahlen könnte er um neue Gruppierungen ergänzt werden, sofern entsprechende aus der Bevölkerung kommende Vorschläge eine Mehrheit erhielten. Über die Vorschläge des Wirtschaftskonvents soll schließlich direktdemokratisch abgestimmt werden – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Parteien und Parlamente aufgrund ihrer Anfälligkeit für Lobbyismus mit derartigen Fragen überfordert wären. Dennoch bliebe es den Parlamenten selbstverständlich überlassen, konkurrierend eigene Vorschläge zur Abstimmung zu stellen.

Das beschriebene Konzept würde also die Vorteile deliberativer und direktdemokratischer Entscheidungsprozesse miteinander verbinden. Zudem würde es erlauben, dass die Betroffenen selbst über ihr Schicksal beziehungsweise das ihrer Nachkommen entscheiden. Und schließlich würde der Markt mit der Schaffung einer eigenen Institution tatsächlich in das politische System integriert.

 

Dies ist der erste Beitrag einer zweiteiligen Artikel-Serie. Zum zweiten Teil gelangen Sie hier.

 

3 Kommentare

  1. Thomas Deterding sagt am 28. Januar 2021

    Lieber Volker Weber,
    vielen Dank für die Anregungen. Ich habe daraufhin vor einiger Zeit veranlasst, dass die beiden Teile des Artikels verlinkt werden. Aus meiner Sicht ist die Notwendigkeit, dass wir uns Gedanken über über die Verfasstheit unseres demokratischen Systems machen, im Zuge der Corona-Pandemie noch offensichtlicher geworden. Ohne die Einführung direktdemokratischer Verfahren auf Bundesebene verharren wir meines Erachtens jedoch in einer Schein-Demokratie. Für einen solchen Schritt brauchen wir vor allem eines: Ver-trauen in „die Weisheit der Vielen“ (Surowiecki) – wobei ich hinzufügen würde, dass diese erst in Erscheinung treten kann, wenn die Verfahren entsprechend gestaltet sind.

  2. Anonymous sagt am 21. November 2020

    Leider hörte ich als blinder erst einige Vorüberlegungen und nicht beide Teile. Wichtig finde ich, daß unser System als weitgehend formelhaft demokratisch beschrieben wird und als Legitimation neben wahlen auch andere Berufungsmöglichkeiten einbezogen werden.
    Mir scheint es auch wichtig, die Nichtwähler symbolisch sichtbar zu machen, indem deren

    %zahlen im Parlament anders besetzt werden. da könnte der genannte rat ein Teil sein.
    Vielleicht würde es die Demokratieakzeptanz steigern, wenn dergleichen halbe oder geringere Periodender wirksamkeit hätte? Dann könnten aktuele Themen bürgernah eingebunden werden- wie nun Corvid?
    Zu solchen Parlamentsergänzungen machte ich mir viele gedanken
    volker Weber, bettenhausen/Rhön
    wegen Blindheit nach Gehör geschrieben

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