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Dem Kapitalismus heute schon an die Wurzel

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„Es ist an der Zeit, dass wir mit der Symptombehandlung aufhören oder uns damit zufrieden geben, sondern an die Wurzel gehen“, bemerkt Asuka Kähler von Fridays for Future im Vorwort zu Norbert Nicolls Buch „Gut leben ohne Wachstum“. Nicoll schließt sich dieser Forderung an und macht bereits auf den ersten Seiten deutlich, was im Kern seines Buches stehen soll: die Einladung, umzudenken. Degrowth statt „Green growth“, Suffizienz als wichtigste Strategie neben Effizienz und Konsistenz, von nun an Wurzel- statt Symptombehandlung: Dafür plädiert der Nachhaltigkeitsforscher.

Doch was ist die Wurzel des Übels, welches unseren Planeten nach und nach unbewohnbar zu machen bedroht? Nicoll, ein profunder Kenner der Nachhaltigkeitsforschung, identifiziert dazu – wohl ohne allzu große Überraschung für die Leser/innen des Buches – den Kapitalismus und seine Wachstums- und Profitorientierung. Ohne Wachstum käme das kapitalistische System zum Stillstand und bliebe nicht stabil. Und da es einen Kapitalismus ohne Wachstumszwang also nicht geben kann, bleibt nur die Vision eines postkapitalistischen Systems, so Nicoll.

Der Kapitalismus aber wird nicht von heute auf morgen aufhören zu existieren, sei mit allem notwendigen Realismus gesagt. Um sich dem System jedoch schon heute zu entziehen und auf politischer, zivilgesellschaftlicher ebenso wie individualverantwortlicher Ebene mit dem Umdenken zu beginnen, zeichnet Nicoll eine „Ideenskizze“, die Pfade und Möglichkeiten für ein Leben ohne Wachstum enthält und dabei Mut macht, selbst aktiv zu werden.

Es finden sich Absagen an aus Postwachstumssicht fragwürdige Produkte und auch kommerzielle, den Kapitalismus befeuernde Angebote des Teilens durch Plattformen wie Airbnb oder Uber (auch Pseudo-Sharing genannt) sowie andere vermeintlich simple Lösungen für die komplexe Problemlage (wie Elektroautos) werden kritisch hinterfragt. Nicolll verdeutlicht auch die Bedeutung von ineinandergreifenden Zielen und Veränderungen, von sinnvoll abgewägten und gut untermauerten Ansätzen, ohne die „falsche Weichenstellungen“ nicht korrigiert und neue Logiken nicht etabliert werden können. Alle genannten Lösungsansätze können nur in einer „Nichtwachstumsgesellschaft“ mit relativ geringer Ungleichheit funktionieren – denn diese, so konstatiert Nicoll, sei ein „zentraler Wachstumstreiber“. Auf diese Weise denkt er soziale und ökologische Fragen zusammen. Die aufgezeigten Pfade sind zwar teilweise ohne gesamtgesellschaftlichen Wandel gangbar, ohne auf Instruktionen zu konkreten Konsumentscheidungen zu setzen, zum anderen Teil sind sie auch – notwendigerweise – anspruchsvoll/ehrgeizig/hoch gesteckt.

Doch wo setzt Nicoll genau an, was kann denn nun jede/r für sich genommen tun, um aus dem Kapitalismus-Karussell auszusteigen? Und welche Rolle spielen Staat und Gesellschaft dabei? Zum einen benennt der Autor einen generellen Richtungswechsel als unumgänglich, dem extremen Kapitalismus sowie seinem Wachstums- und Fortschrittsnarrativ müsse eine Kultur der Genügsamkeit und des Weniger entgegengesetzt werden. Zum anderen zeigt er konkrete Lösungswege, Konsumalternativen und Verhaltenspotentiale auf: von der Mitarbeit in Solidarischen Landwirtschaften über die Nutzung von Regionalwährungen bis zum kostenlosen Nahverkehr bleibt wenig unerwähnt. Dabei scheut er sich auch nicht, unpopuläre, aber doch richtige Statements zu setzen, wie z.B., dass zukünftig aus Nachhaltigkeitssicht nicht jede/r ein „alleinstehendes Einfamilienhaus“ besitzen könne.

Von staatlicher Seite wünscht er sich, dass der Staat Anreize zu nachhaltigem Leben und zur „Selbstbegrenzung, Verantwortungsbereitschaft und Rücksichtnahme“ der Bürger*innen setzen soll. In diesem Kontext spricht Nicoll auch davon, die Demokratie zu revitalisieren, mehr Menschen zu Protesten zu bewegen – doch wie? Hier weist er unter anderem auf deliberative und basisdemokratische Ansätze hin.  Zudem sollte der Staat aus seiner Sicht Nachhaltigkeit zu einem obersten Staatsziel ernennen und alle Handlungen und Planungen unter diesem Aspekt ausrichten.

Manche von Nicolls Vorschlägen lesen sich eher experimentell (Ökologisches Grundeinkommen), andere hingegen dürften den meisten in der Postwachstums-Szene geläufig und eventuell bereits erprobt sein (Arbeitszeitverkürzungen). Insgesamt trägt Nicoll viele bereits etablierte Gedanken und Konzepte aus der Degrowth-Bewegung zusammen, wodurch er es schafft, diverse Bereiche abzudecken und vielfältige Wege des Wandels zu skizzieren. Allerdings dürfte damit nicht jede/m alles neu oder gar bahnbrechend erscheinen. Aus eben diesem Grund eignet sich das Buch aber ausgezeichnet für Einsteiger/innen, die eher an der Hand genommen und in ein für sie neues Themengebiet eingeführt werden wollen. Mitunter wagt sich Nicoll dabei auch in schwieriges Gebiet vor, z.B. wenn er von der Eindämmung des Bevölkerungswachstums spricht und Iran als Vorzeigebeispiel für besonders gelungene Bevölkerungspolitik hervorhebt. Manche im Buch besprochenen Aspekte hätten entsprechend noch differenzierter ausfallen können, wäre ihnen mehr Raum gegeben worden. Im Gegenzug bleibt das Buch auf 135 Seiten Text aber auch schlank und schnell lesbar.

„Gut leben ohne Wachstum“ erklärt niederschwellig und mit lebhafter Sprache, wie der Ausstieg aus der Wachstumsspirale machbar wird und welche Vorzüge ein Postwachstums – und Postkapitalismussystem für alle Menschen hätte – neben der dringend gebotenen „Rettung der Welt“. Nicoll dürfte es mit dem Buch gelungen sein, viele Leute an Bord zu holen. Zu tiefgreifendem, nachhaltigem Wandel braucht es manchmal eine neue Gesellschaftsvision mit einem Schuss Utopismus.

 

Nicoll, Norbert (2020): Gut leben ohne Wachstum. Eine Einladung zur Degrowth-Debatte. Mit einem Vorwort von Asuka Kähler, Fridays for Future. Tectum, 178 Seiten.

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