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Degrowth-Forschung heute (II)

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Teil II: Kritik & Herausforderungen

Im ersten Teil des Artikels haben die Autor*innen eine ‚Landkarte‘ der Degrowth-Forschung entworfen, Schwerpunkte und Cluster sowie Vernetzungen in der Degrowth-Community dargestellt. In Teil 2 identifizieren die Autor*innen Lücken in der Forschung und schauen in die Zukunft der Degrowth-Forschung:

Fehlende Politikvorschläge

Eine zentrale Erkenntnis unserer Analyse ist der Mangel an konkreten Politikvorschlägen in der Degrowth-Forschung. Obwohl das Thema Verteilungsgerechtigkeit immer wieder als Kernpunkt betont wird, bleibt die Diskussion auf konzeptioneller Ebene. Vorschläge wie progressive Steuern, alternative Währungen oder Modelle wie das bedingungslose Grundeinkommen werden zwar häufig erwähnt, doch detaillierte Pläne zur Umsetzung fehlen.

Besonders im Bereich der Geldpolitik zeigt sich eine Schwäche: Es wird in der Degrowth-Literatur oft unhinterfragt angenommen, dass unser derzeitiges Geld- und Finanzsystem Wachstum zwingend erforderlich mache, während hierüber in der allgemein-volkswirtschaftlichen Fachliteratur noch kein Konsens herrscht. Ein tiefergehendes Verständnis dieser Zusammenhänge ist jedoch essenziell, um praktikable Alternativen zu entwickeln.

Methodologische Spaltungen

Unsere Untersuchung zeigt außerdem methodologische Spannungen innerhalb des Forschungsfeldes. Einerseits gibt es einen klaren Fokus auf qualitative Ansätze, insbesondere in Bereichen wie sozialer Transformation und alternativen Lebensstilen. Andererseits setzen quantitative Studien oft auf ökonomische Modellierung, um Szenarien und mögliche Auswirkungen von Degrowth zu simulieren.

Diese methodologische Vielfalt ist zwar bereichernd, führt jedoch zu einer gewissen Fragmentierung: Manche Forschende lehnen quantitative Modellierungen als „zu mainstream“ ab, während qualitative Ansätze gelegentlich als spekulativ kritisiert werden. Es fehlt an Brücken, die beide Methoden sinnvoll verbinden. Drupp et al. (2020) haben argumentiert, dass quantitative Modellierungen als Brückenbauer dienen könnten. Dem steht allerdings die bereits erwähnte, eher kritische Haltung gegenüber quantitativen Modellierungen in weiten Teilen des Degrowth-Diskurses entgegen.

Politische Spannungen

Ein weiteres Hindernis für die Degrowth-Forschung ist das ambivalente Verhältnis zur Rolle des Staates. Einerseits wird der Staat oft als unverzichtbar für transformative Politik angesehen, etwa bei der Einführung progressiver Steuern oder der Förderung von Alternativen wie lokaler Wirtschaftskreisläufe. Andererseits gibt es innerhalb der Bewegung eine tiefe Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen, die als Wachstumsförderer oder hinderlich für radikale Veränderungen wahrgenommen werden.

Degrowth in der Praxis: Visionen für eine gerechtere Zukunft

Die gerechte Verteilung von Ressourcen und Einkommen ist ein Kernanliegen der Degrowth-Bewegung. Unsere Studie hebt mehrere Ansätze hervor, die hier diskutiert werden:

  • Progressive Besteuerung: Vorschläge reichen von höheren Steuersätzen für hohe Einkommen und Vermögen bis hin zu einem maximalen Einkommenslimit. Auch eine stärkere Besteuerung von Erbschaften und Kapitalgewinnen wird in Erwägung gezogen.
  • Bedingungsloses Grundeinkommen: Dieses Konzept wird als Mittel gesehen, um soziale Ungleichheiten zu reduzieren und die Lebensqualität unabhängig von Erwerbsarbeit zu sichern.
  • Arbeitszeitreduktion: Die Verkürzung der Arbeitszeit könnte sowohl die Arbeitslosigkeit reduzieren als auch das Wohlbefinden der Beschäftigten steigern.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit Jahrzehnten der zentrale Indikator für wirtschaftlichen Erfolg. Doch es misst weder soziale Gerechtigkeit noch ökologische Nachhaltigkeit. In unserer Analyse wird deutlich, dass Alternativen wie der Happy Planet Index oder Kate Raworths „Doughnut Economics“ stärker in den Fokus rücken sollten. Diese Ansätze berücksichtigen sowohl die planetaren Grenzen als auch die sozialen Mindestanforderungen, um ein gutes Leben für alle zu ermöglichen.

Degrowth kommunizieren: Überzeugung statt Belehrung

  1. Der Begriff „Degrowth“ wird oft negativ wahrgenommen, da er Assoziationen wie Verzicht, Schrumpfung oder Verlust hervorruft. Unsere Studie zeigt, dass Begriffe wie „Postwachstum“ oder „nachhaltige Wirtschaft“ eine positivere Resonanz finden. Eine klare und zugängliche Sprache ist entscheidend, um Vorurteile abzubauen und die gesellschaftliche Akzeptanz zu fördern.
  2. Die Forschung sollte verstärkt darauf abzielen, die gesellschaftspolitische Machbarkeit von Degrowth-Ideen zu diskutieren. Hierbei sollten mögliche Barrieren und Einschränkungen in der Umsetzung genauer untersucht und berücksichtigt werden. Dies ist entscheidend, um Degrowth-Ideen aus dem akademischen Diskurs in die Praxis zu überführen.
  3. Ein Schwerpunkt sollte auf der Analyse von Verteilungsfragen liegen, insbesondere im Kontext von monetären Systemen, die Wachstum fördern. Diese Forschung könnte beleuchten, wie Reichtum gerechter verteilt werden kann, während gleichzeitig das Wirtschaftswachstum gedrosselt wird.
  4. Verteilungspolitische Maßnahmen sollten deutlicher hervorgehoben und präzisiert werden. Dazu gehört die Ausarbeitung konkreter Vorschläge für eine gerechte Ressourcenverteilung in einer Postwachstumsökonomie. Das Ziel ist es, menschliche Bedürfnisse zu erfüllen, ohne ein ständiges Wirtschaftswachstum vorauszusetzen.
  5. Die Degrowth-Forschung sollte ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen konzeptioneller und empirischer Arbeit anstreben. Idealerweise werden beide Ansätze kombiniert, um sowohl theoretische Tiefe als auch praktische Relevanz sicherzustellen. Ein besonderer Fokus sollte darauf liegen, die positiven Auswirkungen von Degrowth-Politiken auf das Wohlbefinden aufzuzeigen.
  6. Der Bereich Kommunikation und öffentliche Wahrnehmung von Degrowth sollte intensiviert werden. Besonders wichtig ist es, nicht-westliche Perspektiven stärker einzubeziehen, um die Akzeptanz und Relevanz von Degrowth in verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten zu erhöhen?.

Fazit: Eine Bewegung am Wendepunkt

Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass Degrowth weit mehr ist als eine akademische Idee – es ist eine lebendige Bewegung mit konkreten Visionen für eine gerechtere, nachhaltigere Welt. Unsere Analyse unterstreicht jedoch, dass es noch viele Herausforderungen gibt: von der Entwicklung konkreter Politikvorschläge bis hin zur effektiven Kommunikation der Degrowth-Idee.

Die nächsten Jahre werden entscheidend sein. Wird Degrowth es schaffen, von einer Nischenbewegung zu einem zentralen Element der globalen Nachhaltigkeitspolitik zu werden? Die Antwort darauf liegt in der Zusammenarbeit von Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft – und in unserem gemeinsamen Willen, eine bessere Zukunft zu gestalten.

John-Oliver Engler studierte Physik (Diplom, Universität Konstanz) und Wirtschaft (PhD, Leuphana Universität). Seit 2022 ist er Professor für Bioökonomie und Ressourceneffizienz an der Universität Vechta. Seine Forschungsschwerpunkt liegt in der Ökologischen Wirtschaftsforschung, insbesondere untersucht er hier die Rolle von Risiko und Unsicherheit für nachhaltige Wirtschaftspolitik.

Max-Friedemann Kretschmann ist ökologischer Ökonom mit Fokus auf Organisationsentwicklung in Wissenschaft und Forschung sowie alternativen Formen ökonomischen Denkens.

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Julius Rathgens ist Nachhaltigkeitswissenschaftler und seit 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Science Platform Sustainability 2030. Seine Forschung beschäftigt sich mit dem Monitoring der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf der Transformationsforschung institutioneller Rahmenbedingungen, insbesondere der ressortübergreifenden Zusammenarbeit.

Henrik Wehrden studierte Geographie (Diplom, Universität Marburg) und Biologie (PhD, Universität Halle). Seit 2016 ist er Professor für normative Methodenlehre an der Fakultät für Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität in Lüneburg. Sein Forschungsschwerpunkte sind die Methoden der Nachhaltigkeitswissenschaft sowie die Schnittstelle von Ethik und Statistik.

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