Neues aus der Wissenschaft

Degrowth-Forschung heute (I)

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Teil 1: Eine wissenschaftliche Landkarte

In einer Welt, in der die Auswirkungen des Klimawandels immer deutlicher zu spüren sind, soziale Ungleichheiten wachsen und die planetaren Grenzen in vielen Bereichen bereits überschritten wurden, wird die Kritik immer deutlicher, dass das traditionelle Wirtschaftsmodell an seine Grenzen gestoßen ist. Wachstum, das jahrzehntelang als Schlüssel zu Wohlstand und Entwicklung galt, wird zunehmend kritisch hinterfragt. Unter den Begriffen „Degrowth“ bzw. „Postgrowth“ wird dies seit einiger Zeit nun explizit gemacht und unter anderem die Reduzierung von Energie- und Ressourcenverbrauch diskutiert. Während diese Diskussion an Prominenz gewinnt herrscht jedoch immer noch keine Einigkeit bezüglich der Definition, sowie der Ausgestaltung von Maßnahmen zur Umsetzung dieser Ziele.

In einer umfangreichen Studie untersuchen wir deshalb die Entwicklung der Degrowth-Forschung über die Jahre von 2008-2022. Auf Basis einer umfassenden systematischen Literaturanalyse fassen wir die wichtigsten Erkenntnisse, Herausforderungen und Zukunftsperspektiven dieses dynamischen Forschungsfeldes zusammen, insbesondere im Hinblick auf Politikvorschläge zu Geld- und Verteilungspolitik.

Was bedeutet Degrowth? Eine Begriffsbestimmung

Das Konzept der Degrowth, im Französischen als „décroissance“ bekannt, hat seine Wurzeln in den 1970er-Jahren. Inspiriert von Werken wie The Limits to Growth (Meadows et al., 1972) und den thermodynamischen Analysen von Nicholas Georgescu-Roegen, wurde es als Gegenentwurf zur wachstumsfixierten Wirtschaft entwickelt. Degrowth ist kein reines Schrumpfen der Wirtschaft, sondern ein geplantes Zurückfahren von Energie- und Ressourcenverbrauch, um ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur zu erreichen. Ziel ist es, sowohl ökologische als auch soziale Probleme zu lösen.

Ein zentraler Konfliktpunkt in der Nachhaltigkeitsdebatte ist die Frage, ob „grünes Wachstum“ – also wirtschaftliches Wachstum bei gleichzeitiger Reduktion der Umweltbelastung – möglich ist. Vertreter*innen der Degrowth-Idee argumentieren, dass ein absolutes Entkoppeln von Wachstum und Ressourcennutzung eine Illusion sei, da Effizienzgewinne oft durch erhöhten Konsum (Jevons-Paradoxon) neutralisiert werden.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Degrowth begann in den 2000er-Jahren. Ein wichtiger Wendepunkt war die erste internationale Degrowth-Konferenz 2008 in Paris, die das Thema auf die Agenda der akademischen Gemeinschaft brachte. Seitdem hat sich die Zahl der Veröffentlichungen kontinuierlich erhöht, wobei insbesondere seit 2016 ein breites Spektrum an Themen und Ansätzen vertreten ist.

Wer forscht zu welchen Themen? Eine systematische Übersicht der wissenschaftlichen Literatur

Die Degrowth-Forschung ist ein interdisziplinäres Feld mit vielfältigen Ansätzen und sehr unterschiedlichen Sprachen und Outputs (von Blogeinträgen und Vorlesungen, Seminaren, über Abschlussarbeiten bis hin zu wissenschaftlichen Artikeln). In unserer Untersuchung fokussieren wir uns auf die englische Literatur die in wissenschaftlichen Journalen veröffentlicht wurde. Auf der Basis von 475 wissenschaftlichen Artikeln konnten wir sieben zentrale Cluster identifizieren. Diese Cluster unterscheiden sich sowohl thematisch als auch methodologisch voneinander. Nachfolgend beleuchten wir die einzelnen Cluster genauer und zeigen, welche Themen sie prägen.

Welche Themen werden beforscht?

Abbildung 1: Die Abbildung zeigt sieben Forschungscluster, basierend auf einer de-trended correspondence analysis (DCA). Die x-Achse unterscheidet zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen, die y-Achse zwischen individueller und gesellschaftlicher Analyseebene. Während einige Cluster thematisch nah beieinander liegen, bleiben andere weitgehend isoliert.

Cluster 1:Konzeptionelle Grundlagen (n=32)

Dieser Cluster bildet das Fundament der Degrowth-Forschung und umfasst Arbeiten, die sich mit der theoretischen und begrifflichen Fundierung des Konzepts beschäftigen.

Zentrale Themen:

  • Definition von Degrowth: Was bedeutet Degrowth genau, und wie unterscheidet es sich von verwandten Konzepten wie der Steady State Economy oder der Doughnut-Ökonomie?
  • Kritik an bestehenden wirtschaftlichen Indikatoren wie dem BIP.
  • Die Rolle der Geschichte: Die intellektuellen Wurzeln von Degrowth, von The Limits to Growth (1972) bis hin zu Georgescu-Roegens Arbeiten zur Bioökonomie.

Besonderheiten:

In diesem Cluster wird Degrowth häufig als normatives Konzept behandelt, das Fragen von Gerechtigkeit und Wohlstand in den Mittelpunkt stellt. Viele Beiträge sind qualitativ und explorativ. Kommentare und theoretische Diskussionen machen einen großen Anteil der Veröffentlichungen aus.

Cluster 2: Degrowth, Kultur und Macht (n=25)

Hier wird untersucht, wie kulturelle und gesellschaftliche Dynamiken Wachstum fördern und welche Machtstrukturen dabei eine Rolle spielen.

Zentrale Themen:

  • Wachstumstreibende Machtstrukturen: Wie tragen globale und lokale Eliten dazu bei, das Wachstumsparadigma aufrechtzuerhalten?
  • Kulturelle Perspektiven: Die Bedeutung von Konsumkultur und Individualismus für das Wachstum.
  • Regionale Fallstudien: Besondere Beachtung finden ländliche und indigene Gemeinschaften, die alternative Wirtschaftsformen praktizieren.

Besonderheiten:

Dieser Cluster verwendet oft qualitative Ansätze, einschließlich ethnografischer Studien, und zieht Verbindungen zu verwandten Bereichen wie der Umweltgerechtigkeit und dem Postkolonialismus.

Cluster 3: Flavors of Degrowth: Lebensstile und Utopien (n=72)

Hier wird erforscht, welche alternativen Lebensstile und Gesellschaftsmodelle innerhalb der planetaren Grenzen möglich sind.

Zentrale Themen:

  • Das „gute Leben“: Wie können Glück und Wohlbefinden abseits von materiellem Konsum erreicht werden?
  • Praktische Alternativen: Untersucht werden Ansätze wie bedingungsloses Grundeinkommen, freiwillige Einfachheit, Genossenschaftsmodelle oder neue Formen von Care-Arbeit.
  • Utopien und Visionen: Philosophische und ethische Betrachtungen zu einer Postwachstumsgesellschaft.

Besonderheiten:

Dieses Cluster ist stark normativ und von Utopien geprägt. Dabei wird immer wieder betont, dass diese Utopien realisierbar sind, wenn gesellschaftliche Werte und Institutionen verändert werden.

Cluster 4: Quantitative Modellierung (n=69)

Dieser Cluster widmet sich der quantitativen Analyse und Modellierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Degrowth.

Zentrale Themen:

  • Makroökonomische Modelle: Entwicklung und Simulation von Szenarien, wie eine schrumpfende Wirtschaft aussehen könnte.
  • Ressourcendurchsatz: Analyse des Verbrauchs von Energie und Materialien in unterschiedlichen Wachstumsszenarien.
  • Akzeptanz von Degrowth: Empirische Studien zu den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Postwachstumsstrategien.

Besonderheiten:

Die Studien in diesem Cluster basieren häufig auf statistischen Analysen und ökonomischen Simulationen. Dabei wird oft versucht, bestehende Modelle an die spezifischen Fragestellungen der Degrowth-Bewegung anzupassen. Obwohl dieser Cluster wissenschaftlich solide ist, wird ihm manchmal vorgeworfen, zu abstrakt oder technisch zu sein und die sozialen Dimensionen von Degrowth zu wenig zu berücksichtigen.

Cluster 5: Die Grenzen des Wachstums (n=43)

Dieser Cluster ist besonders kritisch gegenüber dem aktuellen Wirtschaftssystem und untersucht die biophysikalischen Grenzen, die das Wachstum einschränken.

Zentrale Themen:

  • Ressourcenschwund: Die Endlichkeit von Rohstoffen wie fossilen Brennstoffen oder seltenen Erden.
  • Planetare Grenzen: Die Überschreitung ökologischer Belastungsgrenzen und ihre Auswirkungen auf Ökosysteme.
  • Systemkritik: Viele Arbeiten in diesem Cluster argumentieren, dass das kapitalistische Wachstumsmodell grundsätzlich inkompatibel mit Nachhaltigkeit ist.

Besonderheiten:

Dieser Cluster enthält oft eine appellative Komponente: Die Notwendigkeit eines radikalen Wandels wird betont, häufig begleitet von Szenarien, die eine drohende Systemkrise beschreiben.

Cluster 6: Transition Management: Steuerung und Umsetzung von Degrowth (n=34)

Hier steht die Frage im Mittelpunkt, wie der Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft gestaltet und gemessen werden kann.

Zentrale Themen:

  • Governance: Wie können politische Instrumente, wie etwa Umweltsteuern, Arbeitszeitverkürzungen oder neue Bildungssysteme, Degrowth fördern?
  • Transformative Geographien: Die Rolle von Städten, Regionen und lokalen Gemeinschaften in der Transition.
  • Indikatoren: Entwicklung neuer Messgrößen, um Fortschritte auf dem Weg zu Degrowth zu dokumentieren.

Besonderheiten:

Die Studien in diesem Cluster verbinden qualitative und quantitative Ansätze, um Lösungen für die praktische Umsetzung von Degrowth zu finden. Ein zentraler Kritikpunkt ist die geringe Verbindung zu konkreten Politikvorschlägen, die oft als zu abstrakt wahrgenommen werden.

Cluster 7: Wahrnehmung und Kommunikation von Degrowth (n=14)

Dieser jüngste Cluster widmet sich der Frage, wie Degrowth von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und wie das Konzept effektiver kommuniziert werden kann.

Zentrale Themen:

  • Rezeption des Begriffs: Wie wird „Degrowth“ wahrgenommen, und welche Missverständnisse existieren?
  • Framing und Narrative: Welche Sprachbilder und Geschichten können helfen, die Degrowth-Idee attraktiv zu machen?
  • Fallstudien: Untersuchungen zu Wahrnehmungen in spezifischen Kontexten, etwa in bestimmten Ländern oder sozialen Gruppen.

Besonderheiten:

Die meisten Studien in diesem Cluster sind empirisch und untersuchen anhand von Umfragen oder Interviews, wie die Bevölkerung auf Degrowth-Konzepte reagiert. Auffällig ist, dass viele Arbeiten erst in den letzten fünf Jahren erschienen sind, was auf ein wachsendes Interesse an der öffentlichen Wahrnehmung hindeutet.

Wer forscht? Netzwerke und Zusammenarbeit

Die Netzwerke und die Zusammenarbeit innerhalb der Degrowth-Forschung spiegeln die Dynamiken eines wachsenden, aber noch jungen Forschungsfeldes wider. In unserer Analyse haben wir die Verbindungen zwischen Autor*innen und Institutionen sowie die generelle Struktur der wissenschaftlichen Gemeinschaft untersucht. Die Ergebnisse zeigen ein komplexes Bild, das sowohl die Stärken als auch die Herausforderungen dieses interdisziplinären Feldes verdeutlicht.

Abbildung 2: Die Abbildung zeigt Co-Autorenschaften im Degrowth-Forschungsfeld. Jeder Punkt (Node) steht für eine:n Autor:in – größere Nodes bedeuten mehr Publikationen. Linien zeigen Kooperationen: Je mehr Verbindungen, desto intensiver die Zusammenarbeit. Viele arbeiten isoliert, während eine zentrale Gruppe stärker vernetzt ist.

Die Mehrheit arbeitet isoliert

Unsere Untersuchung zeigt, dass die Degrowth-Forschung durch eine relativ geringe Netzwerkdichte gekennzeichnet ist. Nur 0,32 % der möglichen Verbindungen zwischen den Autor*innen bestehen tatsächlich, was auf eine begrenzte Zusammenarbeit innerhalb des Forschungsfeldes hinweist.

Die Mehrheit der Forscherinnen in diesem Feld arbeitet entweder allein oder in kleinen Gruppen mit minimaler Vernetzung zu anderen Akteurinnen. Von den insgesamt 632 Autor*innen, die in unserer Studie erfasst wurden, hatten 441 weniger als drei Ko-Autorenschaften mit anderen. Dieses Muster deutet darauf hin, dass viele Beiträge unabhängig oder in kleinen akademischen „Inseln“ entstehen, ohne stark in das zentrale Netzwerk eingebunden zu sein.

Ein dichtes Kernnetzwerk

Trotz dieser Fragmentierung gibt es ein klar erkennbares Kernnetzwerk, das durch eine höhere Kollaborationsdichte und stärkere Verbindungen zwischen den Beteiligten charakterisiert ist. Diese zentrale Gruppe wird von einer Reihe einflussreicher Autor*innen dominiert, die oft miteinander kooperieren. Zu den zentralen Figuren gehören prominente Forscher*innen der Degrowth Community, wie Giorgos Kallis, Federico Demaria und Joan Martínez-Alier. Sie sind nicht nur durch ihre hohe Publikationszahl (z. B. Giorgos Kallis mit 20 Beiträgen in unserem Datensatz), sondern auch durch ihre zentrale Position innerhalb des Netzwerkes herausragend. Die Kollaborationsdichte in diesem Subnetzwerk liegt bei 5,79 %, also fast 18-mal höher als die des gesamten Netzwerks. Die geografische Verteilung der Degrowth-Forscherinnen zeigt eine deutliche Konzentration in Europa, insbesondere in Spanien und Skandinavien. Die Universitat Autònoma de Barcelona (UAB) nimmt dabei eine herausragende Stellung ein. Viele der zentralen Akteurinnen sind oder waren dort tätig, was diese Institution zu einem wesentlichen Knotenpunkt im Netzwerk macht.

John-Oliver Engler studierte Physik (Diplom, Universität Konstanz) und Wirtschaft (PhD, Leuphana Universität). Seit 2022 ist er Professor für Bioökonomie und Ressourceneffizienz an der Universität Vechta. Seine Forschungsschwerpunkt liegt in der Ökologischen Wirtschaftsforschung, insbesondere untersucht er hier die Rolle von Risiko und Unsicherheit für nachhaltige Wirtschaftspolitik.

Max-Friedemann Kretschmann ist ökologischer Ökonom mit Fokus auf Organisationsentwicklung in Wissenschaft und Forschung sowie alternativen Formen ökonomischen Denkens.

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Julius Rathgens ist Nachhaltigkeitswissenschaftler und seit 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Science Platform Sustainability 2030. Seine Forschung beschäftigt sich mit dem Monitoring der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Dabei liegt sein Schwerpunkt auf der Transformationsforschung institutioneller Rahmenbedingungen, insbesondere der ressortübergreifenden Zusammenarbeit.

Henrik Wehrden studierte Geographie (Diplom, Universität Marburg) und Biologie (PhD, Universität Halle). Seit 2016 ist er Professor für normative Methodenlehre an der Fakultät für Nachhaltigkeit an der Leuphana Universität in Lüneburg. Sein Forschungsschwerpunkte sind die Methoden der Nachhaltigkeitswissenschaft sowie die Schnittstelle von Ethik und Statistik.

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