Mit der Degrowth-Bewegung ist ein neuer Stern am Himmel der sozialen Bewegungen.erschienen. Doch die traditionelle Linke beobachtet diese Neu-Erscheinung etwas kritisch – ist es doch ein Aufbruch, der auch ohne sie möglich erscheint. Es fehlten die marxistischen, feministischen und antirassistischen Analysen und die entsprechenden Parolen. Wo sie doch kamen, wurden sie von den Teilnehmern eher misstrauisch beäugt. Nicht ganz rund erscheint neben der unzureichenden Aktionsorientierung auch die Sozialstruktur der Teilnehmer. Es dürfte sich mehrheitlich um Studierende und Studierte handeln, also um Angehörige (zukünftig) eher privilegierter Gruppen. Unterschichten oder zumindest deren Interessenvertreter, auf deren Bündnis mit der Mitte in den meisten linken Strategien gesetzt wird, fehlten. Mindestens ambivalent erscheinen zudem Konsumkritik und Orientierungen an praktischen Schritten für Lebensstile des Weniger: Diese stehen in Verdacht, Prozesse der Umverteilung nach oben zu legitimieren.
Schaut man sich die vielen Veranstaltungstitel an, so ist in der Tat wenig an marxistischem, feministischem, antirassistischen, noch weniger an regulationstheoretisch-gramscianischem Analyse-Vokabular zu sehen. Die fatalen Auswirkungen des Wachstumsökonomie hier und im globalen Süden werden eher aus moralischer und kulturkritischer Perspektive dargestellt und beklagt
Doch diese Bewegung geht deswegen keineswegs konform mit einer kapitaldominierten Ökonomie. Ich möchte die These wagen, dass hier „objektiv“ ein neuer Strang der Kapitalismuskritik entstehen kann, der für dieses auf Wachstum angewiesene System gefährlicher ist als vorherige Paradigmen der Kritik, die an der Armutsproduktion, an Exklusionen oder ökonomischen Dysfunktionalitäten angesetzt haben.
Gesucht: Gesellschaftsstruktur für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit
Schon der Titel der Leipziger „Internationalen Degrowth-Konferenz für ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit“ weist auf den Anspruch hin, Ökologie integral mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Aber wurde er auch eingelöst?
Die Fülle der Veranstaltungen und Themen erlaubte es zunächst kaum, einen schnellen Überblick über Gewichtungen zu bekommen. Das Mega-Treffen setzte sich etwa zur Hälfte aus „Theorie“ und „Praxis“ zusammen: Aus wissenschaftlich-politischen Reflexionen über Erfordernisse, Konzepte, Transformationswege und Hindernisse für eine Postwachstumsgesellschaft einerseits und aus praktischen Workshops zum Austausch und zur Initiierung von Bottom Up-Interventionen für eine Postwachstumskultur andererseits.
Folgende Veranstaltungen aus dem „Theorie-Teil“ können direkt dem Thema soziale Gerechtigkeit zugeordnet werden:
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Einkommens- und Reichtumsverteilung, Konsumrechte
„Well being, social capital and income change“
”Rewarding with a licence to commit ecocide: High incomes and climate change”
”Equity and emissions: How are household emissions are distributed,..”
”Ensuring equitable access to energy in the context of a cap”
”Equity within limits: Introducing convergance mapping and initiatives with contraction as well as equity processes”
”Happiness and income decrease. Am empirical study from Barcelona”
“Climate justice and post-growth”
”Solidary mobility” -
Soziale Sicherung/ Grundeinkommen
“Basic Income and Degrowth“
“Unconditional basic Income, human rights-based equality and economic degrowth“
” Ecological Basic Income – An Acceleration Brake?”
” Bedingungslose Grundsicherung durch Einkommen oder Infrastruktur?” -
Arbeitskonzepte/ Arbeitszeitverkürzung
“Degrowth economy: What does this mean with regard to concepts of work“
”Work in degrowth societies”
”Exploring human labour in times of low carbon and no growth economies”
”Degrowth and unemployment”
”Downshifting – Rejecting the growth imperative or internalizing the neoliberal order?”
Soziale Gerechtigkeit wurde jedoch nicht nur im engeren Sinne als Verteilung von Einkommen, Konsum und Arbeit thematisiert. Eine Reihe von Veranstaltungen widmete sich der Frage nach der nötigen/passenden Gesellschaftsstruktur einer Postwachstumsgesellschaft, abzulesen etwa an den folgenden Themenkomplexen:
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Demokratie, Lokalismus, Partizipation
“Open localism“
“A historical exploration of ruralist ideology in Spain and its importance for the degrowth and democracy debate“
”Participation and economic growth in cooperatives“ -
Commons/ Solidarische Ökonomie etc.
”Social and solidarity economy as a transitional path towards a degrowth society”
”Solidarity economy in Brazil and Degrowth”
”Commoning in the new society”
”Participation and economic growth in cooperatives” -
Kritik der Green Economy
” Green economy and its others: conservation, scarcity, and buen vivir”
” Degrowth and the quest of overcoming capitalist conservation” -
Institutionen
”Principles for institutional design of future degrowth eco-sustainable societies”
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Rolle des Geldes: Systemische Zwänge/ Ökonomisierung/ Öko-Besteuerung:
„Citizens vs. markets: Rethinking the economy in time of crises“
“Systems of finance in transition“
” Decommodification by constituting alternative monetary institutions”
” How does the monetary system work, does it require economic growth, and are there monetary policy options allowing degrowth?”
”100% Money and ‘Vollgeld’, no solution for stationary economy”
”Degrowth, the financial system and the pension system”
”How to draw the line between a helpful market adaptation and a destructive capitalization”
”Geld, Schulden, Wachstum – wie hängt das zusammen?”
”Tax internationally traded commodities to safeguard biodiversity” -
Werte etc.
”Time Use in an alternative Society”
”Ecologically dangerous patriotism”
”Values and Ethics in an Alternative Degrowth society”
”Where do all the hours go? Time use, resource consumption and the dematerialisation of everyday practises” -
Technologie
”Degrowth technologies – global experiences”
“Convivial and emancipatory technologies – suitable conceptions for technology in a degrowth society?“
” Attitudes towards technology: dominant technological optimism and challenges for the degrowth alternative”
Doch es ging nicht um ein fernes Utopia. Die Frage nach dem politischen Weg wurde ebenfalls vielfältig thematisiert:
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Suffizienzpolitik
”Exploring consumption-focused policy mixes for absolute decoupling of well-being from resource-use..”
”Sustainable Consumption in Hungary – what is small-footprint-living and can we make it attractive?”
”Claiming sufficiency! An introduction to the policy of sufficiency”
”Politics of sufficiency vs. counterculture” -
Spielräume
„Degrowth as a concrete utopia: Perspectives, chances, obstacles“
“Cultural Agency – Potenziale und Grenzen kultureller Bewegungen“
“Degrowth as counter-hegemony? Lessons from Turkey“
”No good life in a bad life? Experiences of degrowth oriented actors in a growth economy” -
Akteure/Strategien
”Drivers and strategies for societal transformation”
“Exploring transformation to a radical alternative society“
”Governance of sustainability transformation”
”Locking in or helping shift? Trends and developments affecting sustainable resource use and degrowth”
”The co-evolutionary relation of post-growth practises between production and consumption. “
”Political ecology and degrowth”
”The perspective of change agents…”
”Why degrowth and not class struggle?”
“Bridging movements and research for the great transformation”
Wege aus dem Wachstum: Emanzipatorische Ansprüche
Traditionelle linke Kritiken (Feminismus, Marxismus, Anti-Rassismus) spielten auch deswegen eine geringe Rolle, weil sie vor allem Analysen des Bestehenden liefern und sich weniger an die Ausarbeitung von konkreten Alternativen herantrauen. Denn damit kann man sich schnell die Finger verbrennen. Kulturelle Ansätze könnten das Profitprinzip unangetastet lassen, Suffizienzpolitiken Extraprofite legitimieren, autonome Eigenarbeit Care-Work an Frauen zurückdelegieren, Ökosteuern eine Ökonomisierung von Natur bedeuten, die Diskussion alternativer Geldsysteme von der Ausbeutung durchs „produktive“ Kapital ablenken etc. All diese Ansätze könnten gefährlich sein – im falschen Rahmen des Green Capitalism.
Common sense der Degrowth-Bewegung ist allerdings, dass eine Green Economy oder ein Green Capitalism nicht ausreicht für ein besseres gesellschaftliches Naturverhältnis, möglicherweise auch kontraproduktiv ist. Natürlich ist die daraus erwachsene Wachstumskritik keineswegs per se emanzipatorisch-links. Das Spektrum reicht von der konservativen Ablehnung moderner Freiheiten bis zur radikalen Infragestellung jeglicher Form von Herrschaft oder Repräsentation. Auf der Leipziger Degrowth-Konferenz und auch in seinem tragenden Umfeld überwiegen allerdings deutlich emanzipatorische Ansprüche für Wege aus dem Wachstumszwang. Ein paar Beispiele für Fluchtpunkte der Debatte mögen dies verdeutlichen:
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Lebenswelt statt System
Die diskutierten Alternativkulturen des gemeinsam Lebens/Arbeitens/Produzierens/Konsumierens/sind geprägt vom Anspruch auf direkte Partizipation, auf direkte Vergesellschaftung. Es wird dadurch die kommunikativ strukturierte „Lebenswelt“ gestärkt gegen die Wirkungsmacht der „Systeme“ mit ihren hinter dem Rücken ablaufenden systemischen Steuerungsmechanismen Geld bzw. Macht.
Gleichzeitig wird aber auch Lokalismus/Ruralismus kritisch diskutiert. -
Gleichheit der Konsumrechte
Der an die nördlichen Industriegesellschaften und ihre Follower gerichtete Degrowth-Anspruch stellt sich zum einen objektiv gegen die deren „imperiale Lebensweise“. Zum anderen wird explizit die Schädlichkeit von Reichtum (als Ermöglichung von Verschwendung) thematisiert. Dagegen wird die Notwendigkeit gleichen Zugangs zu Ressourcen und Basisgütern gesetzt. Ein Beispiel ist die Debatte um ein Grundeinkommen (in materialer oder monetärer Form).
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Befreite Arbeit
Diskutiert werden einerseits Modelle und Wirkungen von Arbeitszeitverkürzungen und „guter Arbeit“. Zum anderen werden diverse autonomere Formen der Arbeit jenseits der Erwerbsarbeit thematisiert, etwa Eigen- oder Gemeinschaftsarbeit, Muße etc. Auf dem Programm steht nichts weniger als die Frage nach den Möglichkeiten und Inhalten einer befreiten Arbeit sowie ihrer Wechselwirkungen zu Produktion und Konsum.
Diese hier nur unvollständig aufgeführten Beispiele zeigen: Verschiedenste Mechanismen und Strukturen der Herrschaft und der Ungleichheit werden als Wachstumstreiber analysiert. Damit bekommt die wachstumskritische Bewegung einen zentralen Punkt in den Blick.
Fluchtpunkt: Mehr Gleichheit, weniger Herrschaft
Weiteres Wirtschaftswachstum wird sich in den gesättigten nördlichen Industriegesellschaften nur noch realisieren lassen, wenn die Gesellschaft ungleicher wird. Je weiter die Einkommensschere auseinandergeht, desto eher werden Menschen bereit sein, auch sozial und ökologisch problematische wirtschaftliche Aktivitäten aufzunehmen – um als Niedriglöhner ihre Miete bezahlen zu können oder als Angehöriger der Mittelschicht den Abstand nach unten zu wahren. Ebenso braucht weiteres Wirtschaftswachstum eine herrschaftsförmige Gesellschaft. Sie ist der „Garant“ für ein Wachstum des Status- und Erlebniskonsums. Wer sich bei der Arbeit, in der Nachbarschaft oder allgemein in der Gesellschaft unterdrückt und entwertet fühlt, der fragt vermehrt Statussymbole nach, um öffentlich und für sich selbst zumindest ein anderes Bild abzugeben. Dies ist nicht nur „linke“ sozialpsychologische Theorie. Empirische Belege für diese Zusammenhänge finden sich etwa bei Wilkinson/Pickett („Gleichheit ist Glück“).
Damit ist umgekehrt aber auch die sozialstrukturelle Bedingung für eine Postwachstumsgesellschaft angezeigt: Sie muss freier und gleicher sein als die wachstumsabhängige Gesellschaft und damit zwei zentrale Ziele der Moderne weiterverfolgen, sie sozusagen erst dadurch zur vollen Geltung kommen lassen. Dies braucht Bottom-Up-Anstöße und Modellprojekte, wird aber nur zu verallgemeinern sein mit Postwachstumspolitiken, die Freiräume für alle Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen und mehr Verteilungsgleichheit gesamtgesellschaftlich absichern – als Basis für die Verbreitung von Postwachstumskulturen jenseits kleiner Avantgarden.
Es ist die Aufgabe der Linken, dafür anschlussfähige Politikangebote, Paradigmen, Tagesforderungen und Zuspitzungen zu entwickeln. Eine neue Gesellschaft wächst nur im Schoße der alten und auch eine neue Wirtschaft entsteht nicht ex nihilo. Sie muss an bestehenden Tendenzen anknüpfen. Dennoch würde es sich um „nicht-reformistische Reformen“ (Andre Gorz) handeln. Denn Politiken, die mehr Verteilungs-Gleichheit und mehr Freiheit für alle erreichen, werden verbunden sein müssen mit einer Zurückdrängung von Strukturen der Ungleichheit, mit Rassismus, Sexismus und Kapitalmacht. Sie werden zu einer neuen gesellschaftlichen Hegemonie, und zu einer neuen Art und Weise der Regulation der Ökonomie führen. Ob man das dann noch Kapitalismus nennen kann?
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Dieser Artikel entstand auf der Basis eines Diskussions-Papiers zum Workshop der RosaLuxemburg-Stifung “Wachstumskritik und die Demokratisierung gesellschaftlicher Naturverhältnisse“
Eine englische Version des Artikels gibt es hier