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Das Satisfaktionsprinzip

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Eine für die ökonomische Orthodoxie unverzichtbare Annahme ist die monoton steigender Nutzenfunktionen bei allerdings fallendem Grenznutzen. Die ersten 100 Euro bringen den größten Nutzenzuwachs, die zweiten 100 Euro bringen immer noch einen großen, aber nicht mehr ganz so großen und so geht es weiter: Jede 100 Euro bringen einen Nutzen, aber dieser wird immer geringer.

Diese doppelte Annahme (monoton steigender Nutzen und fallender Grenznutzen) ist damit vereinbar, dass der Nutzen einer Person grundsätzlich unbeschränkt ist, das heißt, dass er mit zunehmender Güterausstattung über alle Schranken hinaus ins Unendliche zunimmt. Sie lässt sich aber auch mit der Annahme verbinden, dass die individuellen Nutzenfunktionen jeweils nach oben beschränkt sind. An die kleinste dieser oberen Schranken nähert sich eine monoton steigende Nutzenfunktion dann mit fallendem Grenznutzen asymptotisch an.

Der US Ökonom und Nobelpreisträger John C. Harsanyi hat, um seine ethische Theorie entwickeln zu können, von der Begrenzung der individuellen Nutzenfunktionen Gebrauch gemacht. Ausgehend von der Vermutung, dass alle individuelle Nutzenfunktionen nach oben beschränkt sind, dass es also für alle eine kleinste obere Schranke gibt, die nicht überschritten, wohl aber asymptotisch angenähert wird, hat er vorgeschlagen die Nutzenfunktionen allesamt auf ein einziges Intervall zu normieren. Dies ist eine radikale, aber wirksame Methode, den Individuen gleiches Gewicht zu geben und eine interpersonelle Vergleichbarkeit herzustellen, die in der ökonomischen Orthodoxie sonst abgelehnt wird. Wenn man die individuellen Nutzenfunktionen in dieser Weise normiert, kann man sagen, welche Nutzendifferenz für den einen größer ist als für den anderen. Man kann dann sogar Niveauvergleiche des Nutzens zwischen Individuen anstellen, ohne die Axiomatik des Nutzentheorems aufgeben zu müssen, eine kleine Veränderung mit großer Wirkung.

Die Theorie des steigenden Nutzens bei größerer Güterausstattung hat theoretisch und praktisch eine große Bedeutung für die Ökonomie. Daher lohnt sich ein genauerer Blick auf dieses Prinzip. Zunächst einmal steht es für die Entkoppelung von Wohlergehen und Ökonomie. Offenkundig und empirisch belegt, ist die Annahme falsch, dass das Wohlergehen von Menschen mit zunehmendem Lebensstandard wächst. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Einkommen und Zufriedenheit, aber der beschränkt sich auf das unterste Spektrum. Die Annahme monoton steigender Nutzenfunktionen lässt sich substantiell, also bezogen auf menschliches Wohlergehen, nicht rechtfertigen. Dieses Prinzip ist sowohl empirisch als auch ethisch problematisch. Empirisch, weil das Wohlergehen de facto nicht mit zusätzlichen Gütern beliebig steigt und ethisch, weil die Begrenzung der Wünsche Voraussetzung einer humanen Praxis ist.

Ein Kühlschrank im Haus bringt in der Regel eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards. Zwei Kühlschränke im Haus mögen noch Sinn machen, wenn genug Platz vorhanden ist, vielleicht noch eine Kühltruhe im Keller. Spätestens ab dem vierten Kühlschrank sinkt der Lebensstandard in den meisten Haushalten, da unnötig Energie verbraucht und Raum verschwendet wird. Zehn Kühlschränke in einer durchschnittlichen Wohnung wären ein Albtraum. Der Nutzen des ersten Kühlschrankes war am größten, der Nutzenzuwachs durch den zweiten war schon deutlich kleiner, ob der dritte noch einen Nutzenzuwachs erbrachte, mag in der Familie umstritten gewesen sein, ab dem vierten Kühlschrank – so wollen wir annehmen – sinken die Werte der Nutzenfunktion von Kühlschränken in diesem Haushalt ab. Das Prinzip der monoton steigenden Nutzenfunktion ist also verletzt.

Stellen wir dem Prinzip der monoton steigenden Nutzenfunktion das Satisfaktionsprinzip gegenüber: Für jedes materielle Gut gibt es einen Sättigungsgrad, ab dem zusätzliche Güter das Nutzenniveau absenken. Die Nutzenfunktionen aller Individuen hätten, wenn sie dem Satisfaktionsprinzip genügen, bezüglich beliebiger Güter nicht nur jeweils eine oberste Schranke, sondern würden ab der Satisfaktionsgrenze sinken. Dies ist nicht als ethische Forderung gemeint, sondern als empirischer Befund: So betreffen unsere Präferenzen materielle Güter. Es mag pathologische Ausnahmen geben, in denen Personen über eine unbegrenzt hohe Zahl von Gegenständen verfügen wollen, auch jenseits jeder Relevanz für ihre Lebenspraxis. Aber wir sollten pathologische Grenzfälle nicht zur Grundlage einer ökonomischen Theorie der Rationalität machen.

Das Satisfaktionsprinzip gilt für alle materiellen Güter und alle Dienstleistungen, das heißt für die gesamte reale Ökonomie. Nun könnte man sagen, es gäbe doch eine Ausnahme, nämlich das besondere Gut „Geld.“ Solange Geldbesitz nur eine Formel für potentiellen Güterbesitz ist, gilt auch hier das Satisfaktionsprinzip. Wenn Geld zum Selbstzweck wird, dann könnte man sich allerdings wegen des immateriellen Charakters des Geldes eine Verletzung des Satisfaktionsprinzips vorstellen. Aber diese Verletzung hat wiederherum einen hohen theoretischen Preis, nämlich den, dass Geld nicht mehr als bloßes Tauschmittel, sondern als Ware sui generis definiert werden würde. Geld als eine Ware sui generis, nicht als bloßes Tauschmittel, ergibt ökonomisch keinen Sinn. Dennoch mag man vermuten, dass es gerade diese Verwandlung von einem Tauschmittel zu einer Ware sui generis ist, die zur Pathologie der Weltfinanzmärkte beigetragen hat. Wenn das Satisfaktionsprinzip für alle materiellen Waren und Dienstleistungen gilt, also für die gesamte reale Ökonomie, dann gilt es auch für das besondere immaterielle Gut des Geldes in seiner Funktion als Tauschmittel. Das heißt, das Prinzip des monoton wachsenden Nutzens ist in der empirischen Welt realer Waren und Dienstleistungen nicht erfüllt.

Das Satisfaktionsprinzip hat aber vor allem eine immense ethische Bedeutung. Betrachten wir zunächst den individual-ethischen Aspekt: Es ist ein wesentliches Merkmal der entwickelten moralischen Persönlichkeit, dass sie ihre Wünsche begrenzen kann. Das Streben nach immer mehr ist ein infantiler Charakterzug. Aristoteles nennt das akrasia, die Unfähigkeit sich selbst zu beherrschen. Im gewissen Sinne ist das Streben nach immer mehr, eine Form von Willensschwäche. Es zeigt, dass die Person nicht in der Lage ist, ihrem Leben eine kohärente Struktur zu geben. Zwischen der punktuellen Optimierung des Unbeherrschten und dem Prinzip egoistischer Konsequenzen-Optimierung besteht ein enger systematischer Zusammenhang.

Nun könnte man, sogar mit einigem Recht dagegen halten, dass die ökonomische Optimierungstheorie doch die Mittel bereitstellt, um die Präferenzerfüllung über die Zeit zu optimieren. Schließlich müsse es doch um das zeitliche Integral der Präferenzen-Erfüllung gehen, und nicht um die Präferenzen-Erfüllung im Augenblick. Entsprechend muss die Wunscherfüllung heute unter Umständen zugunsten einer Wunscherfüllung morgen zurückgestellt werden. Ist das nicht sogar der Kern der modernen ökonomischen Rationalität, das, was Max Weber als die Verwandtschaft zwischen protestantischem Ethos und dem Geist des Kapitalismus analysiert hat? In der Tat ist der Geist des Kapitalismus merkwürdig ambivalent. Auf Seiten der Konsumenten produziert er eine Verkindlichung, in den Begriffen von Sigmund Freud, eine orale Mentalität des bloß passiven Konsumierens. Auf Seiten der Produzenten allerdings ist Triebverzicht gefordert, die Zurückstellung der augenblicklichen Wunscherfüllung zugunsten der Kapitalbildung. Die extreme Sparsamkeit eines Rockefeller in den USA oder der Brüder Albrecht (ALDI) in Deutschland ist dafür exemplarisch.

Seit den 1970er Jahren hat sich das reale Bruttoninlandprodukt pro Kopf verdoppelt, begleitet von einer sinkenden Lebenszufriedenheit. Die Theorie und Praxis unbegrenzt ausweitbarer Befriedigung unersättlicher Konsumenten und unbegrenzt gieriger Kapitaleigner steht in einem empirisch belegbaren Konflikt mit dem Ziel, menschliches Wohlergehen und rücksichtsvollen Umgang mit den begrenzten Ressourcen dieses Planeten zu verbinden. Der Übergang von der Theorie monoton steigenden Nutzenwerte zum Suffizienzprinzip würde die ökonomische Theorie mit einer wirtschaftlichen Praxis der Nachhaltigkeit versöhnen. Nachhaltigkeit wäre keine äußere Restriktion ökonomischer Optimierung, sondern würde zu einem intrinsischen Merkmal ökonomischer Rationalität.

 

Der Autor ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit 2022 Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Zur weiteren Lektüre eignet sich sein Buch: «Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie» aus dem Jahr 2011, besonders in Teil III, die Kapitel III 4 «Begrenzung der Wünsche» und III 7 «Nachhaltigkeit und Ökologie» und was die rationalitätstheoretischen Aspekte betrifft: «A Theory of Practical Reason» aus dem Jahr 2023 publiziert von Palgrave Macmillan.

Julian Nida-Rümelin war Lehrstuhlinhaber für Philosophie in Göttingen und München, sowie Direktor des Geschwister-Scholl Instituts für Politikwissenschaften, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und der Gesellschaft für analytische Philosophie. Er ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften, der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie für Ethik in der Medizin und Stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Seit 2019 ist er Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation (bidt) und seit 2022 Gründungsrektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Sein Buch Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen O?konomie hat intensive Debatten zum Verhältnis von Ökonomie und Ethik ausgelo?st. Es beruht auf seinen langjährigen Forschungen zur Theorie praktischer Rationalität an der Nahtstelle zwischen Ökonomie, Spieltheorie und Philosophie. Für fünf Jahre (1998-2002) wechselte Nida-Rümelin in die Kulturpolitik, zunächst als Kulturreferent der Landeshauptstadt München, dann als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder. 2016 verlieh ihm die bayrische Staatsregierung die Europa-Medaille, 2019 erhielt er den bayrischen Verdienstorden.

1 Kommentare

  1. Milena Meißner sagt am 3. Dezember 2024

    Hallo,
    sehr spannender Beitrag. Im Titel und Hauptteil des Artikels wird vom „Satisfaktionsprinzip“ gesprochen. Im abschließenden Abschnitt ist die Rede vom „Suffizienzprinzip“. Mir ist ersteres sofort positiv aufgefallen, „befriedigend“ statt „ausreichend“ schien schon in der Schule verlockender.

    Falls die Unterscheidung beabsichtigt war, würde ich mir eine kurze Einführung zum Verständnis des Suffizienzbegriffes in diesem Kontext wünschen, ansonsten sehen Sie es gerne als Hinweis zur Korrektur.
    Beste Grüße

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