Standpunkte

Bildung jenseits des Wachstumspfades

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Für das Großvorhaben, Industriegesellschaften in eine Postwachstumsökonomie zu transformieren, existiert kein historisches Beispiel. Zugleich dürfte es für demokratische Regierungen an politischen Selbstmord grenzen, Bürger/innen die hierzu nötigen Reduktionsleistungen abzuverlangen. Die korrespondierenden Lebens- und Versorgungsstile zu praktizieren ist weniger eine Frage der Einsicht oder des bekundeten Wollens – so wichtig diese Faktoren auch sein mögen – als vielmehr eine des eingeübten Könnens und der Belastbarkeit. Diese Kompetenzen gehen in Konsumgesellschaften systematisch verloren. Versorgungsmuster, die in zunehmendem Maße darauf beruhen, Bequemlichkeit generierende Dienstleistungen, automatisierte Infrastrukturen und (Haushalts-) Technologien in Anspruch zu nehmen, mögen vor wenigen Jahrzehnten noch ein vergleichsweise hohes Einkommen vorausgesetzt haben, konnten sich inzwischen jedoch immens ausbreiten. Sich auf Situationen einzulassen, die das bislang in Anspruch genommene Komfortniveau vermissen lassen und in der selbsttätig Leistungen zu erbringen sind, die vormals von außen zugeführt wurden, stellt ein persönliches Wagnis dar, weil es dafür kaum mehr Blaupausen gibt und die Bildungspolitik keinen Wert auf die Weitergabe tradierten Wissens legt. Deshalb scheitern Transformationen, die auf Reduktionsstrategien beruhen, am substanziellen Können auf individueller Ebene. Die Angst vor einer Wirtschaft ohne Wachstum ist daher nicht so irrational, wie es oft scheinen mag: Wer springt schon ins Wasser, wenn er/sie das Schwimmen verlernt hat?

Was in einer überfrachteten Konsumumgebung an eigener Kompetenz übrigbleibt, besteht bestenfalls noch aus einem mühelosen Dahingleiten auf uniformierten Benutzeroberflächen, so als sei das erfüllte Leben gleichbedeutend mit einem allgegenwärtigen Touchscreen. „Lebenserleichternde“ Automatisierung befreit von der Notwendigkeit, etwas Substanzielles zu beherrschen. So wird eine Virtuosität des Nicht-Könnens kultiviert. Sie fokussiert darauf, ständig neue Ansprüche zu begründen, für unabdingbar zu erklären und deren Erfüllung mit nur minimalem eigenem Einsatz auszulösen. Die Kuriositäten eines derartigen Programms der individuellen Verkümmerung lassen sich überall besichtigen. Wenn das Recht auf Hilflosigkeit als gesellschaftlicher Fortschritt zelebriert wird, erzwingt die damit herangezüchtete Abhängigkeit umso mehr äußeres Wachstum an Leistungszufuhr – mit allen stofflichen Anhängen, versteht sich.

„Akademisierungswahn“ (Nida-Rümelin 2014) trägt dazu bei, jene basalen Fähigkeiten und Praktiken zu verdrängen, die eine suffiziente, sesshafte und an moderner Subsistenz orientierte Lebensführung ermöglichen. Dies lässt sich durch keine noch so bemühte Integration additiver Nachhaltigkeitsinhalte ausgleichen. Die Bildungsindustrie setzt bestenfalls akademisierte und politisierte Weltverbessernde frei, deren theoretische Nachhaltigkeitskompetenz zum symbolischen Ersatz für gelebte, also empirische Nachhaltigkeit geworden ist.

Kinder, die in unsere Welt geboren werden, betrifft dies in besonderer Weise, denn sie kennen naturgemäß keine andere. Aus der ihnen heute begegnenden Wirklichkeit können sie jedoch nur Bruchstücke von für sie bedeutsamen Entstehungs- und Sinnzusammenhängen sowie die dahinterliegenden Strukturen rekonstruieren, denn die Externalisierungsgesellschaft (Lessenich 2016) verbirgt die tatsächlichen Prozesse der materiellen Ausstattung ihres Lebens sowie die damit verbundenen Kosten. Die komplexen Zusammenhänge werden nicht nur ausgelagert, sondern bleiben aufgrund des demonstrativen Desinteresses des überwiegenden Teils der Gesellschaft an den zugrundeliegenden Prozessen der Produktion, des Vertriebs, der Nutzung und Entsorgung der Produkte inklusive ihrer Wirkmächtigkeit im ökologischen sowie sozialen Raum für den größten Teil der Entwicklung eines Kindes im Dunkeln.

Während sich deren Entwicklung seit jeher vor dem Hintergrund relativ statischer kultureller Muster, Werte und Normen vollzog, existiert diese Rahmung heute nicht mehr. Kinder müssen nun ihre mentale und emotionale Reifung nicht nur in einer pluralistischen Welt vollziehen, in der verlässliche Orientierungen Mangelware sind, sondern sie vollziehen ihre Entwicklung auch in einer Gesellschaft, die sich schneller verändert als sie selber. Die gegenwärtige Generation ist die erste, die in vollem Umfang eine Umkehrung der Verhältnisse erfährt: in der gesamten Menschheitsgeschichte haben sich Kinder an den Urteilen und Verfahrensweisen ihrer Eltern und der Generationen davor orientiert, von ihnen Überlebensstrategien gelernt, diese kulturell ausgelebt, angereichert, sich an ihnen gerieben und die Resultate an die nächsten Generationen weitergegeben. Die Beschleunigung der unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegenden Veränderungen von Referenzpunkten gesellschaftlicher Normen und Werte, der shifting baselines (Pauly 1995), führt dazu, dass Jugendliche und junge Erwachsene ihre Entwicklung ohne stabile Referenzpunkte in Hinblick auf Werte und Normen meistern müssen. Das derzeit vermittelte Glaubensbekenntnis, eine auf Wachstum ausgerichtete Gesellschaft könne die resultierenden Risiken und Verwerfungen anstelle der Etablierung nachhaltigkeitstauglicher Werte und Normen durch exponentielles Wachstum des Wissens beseitigen, stellt sich insbesondere für diejenigen als fatal heraus, die aufgrund ihres geringen Alters keinen Protest einlegen können, weil sie die ihre Zukunft betreffenden Folgen nicht antizipieren können. Insbesondere können sie nicht wissen, welche Lernprozesse schädliche Folgen haben und entsprechend verweigert werden sollten (Simon 2002).

In der Bildung spielt diese Frage keine Rolle. Das Ringen um die Entscheidung, welche Inhalte relevant sind, wird nicht selten damit gelöst, dass aus den Wissensbeständen Informationen extrahiert werden, die als nunmehr komplexitätsreduzierte Splitter in die Curricula der Fächer implementiert werden (Nida-Rümelin/ Zierer 2017). Um die Effizienz (vermeintlich) zu steigern, werden zudem die praktischen Anteile eliminiert, die aber in der Verknüpfung körperlicher, geistiger und emotionaler Eindrücke grundlegend und unverzichtbar für das Denken, die Entscheidungsfindung, das Sozialverhalten sowie für die Kreativität sind (Damasio 2004). Die Digitalisierung der Lernprozesse trägt zu dem Prozess der Entkopplung von körperlicher Wahrnehmung und abstrakter Informationsvermittlung bei, indem Scheinrealitäten an die Stelle der realen Welt treten (Funke 2011). Auf diese Weise lassen sich zwar mehr Inhalte vermitteln, die aber weder Zusammenhänge deutlich machen, noch dazu beitragen können, komplexe Probleme zu analysieren oder die Lernenden in die Lage zu versetzen, Lösungsansätze zu generieren. Auf der Strecke bleibt das Bedürfnis, in einer derart beschleunigten sowie der Wahrnehmung aus erster Hand beraubten Welt einen Ort verlässlicher Werte und Normen zu finden, die Orientierung und Referenzpunkte vermitteln ebenso wie die Entwicklung der Fähigkeit, sich über einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren, Zusammenhänge zu erkennen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und die Bedeutung des Gegenstandes kritisch bewerten zu können. Dies bedarf nämlich der Übung und Erfahrung, die in der Bildungswirklichkeit einen verschwindend geringen Anteil eingeräumt bekommen. Solange die Gesellschaft dem Erfahrungswissen nicht den ihm gebührenden Raum zuordnet und die Fähigkeit fördert, sich in eine Tätigkeit zu versenken, wird der Anspruch, aus Informationen Wissen und aus Wissen Erkenntnis zu formen mit dem Ziel, sich konstruktiv den wichtigen Fragen unserer Welt zu stellen, in vielen Bereichen auf der Strecke bleiben. Eine auf Wachstumsrücknahme gerichtete Bildung kann sich nur in Räumen entwickeln, die Anlass zur Erweiterung von Fertigkeiten und Erfahrungen bieten, weil diese der Schlüssel zu einem Selbstbild sind, das eine Rückbesinnung auf das Wesentliche erst möglich macht. Sie bildet den Kontrapunkt zu einer Konsumorientierung, die neben der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen Ängste davor erzeugt, mit wenig zufrieden sein zu können.

 

Literatur

Damasio, A. R. (2004): Descartes‘ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München

Funke, R. (2011): Der entgrenzte Mensch, München.

Grund, J., Brock, A. (2018): Bildung für nachhaltige Entwicklung in Lehr-Lernsettings, Freie Universität Berlin. http://www.ewi-psy.fu-berlin.de/einrichtungen/weitere/institut-futur/aktuelles/dateien/executive_summary_junge_menschen.pdf (17.12.2018)

Lessenich, S. (2016): Neben uns die Sintflut: Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin.

Nida-Rümelin (2014): Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung, Hamburg.

Nida-Rümelin, J./Zierer, K. (2017): Bildung in Deutschland vor neuen Herausforderungen, Baltmannsweiler.

Pauly, D. (1995): Anecdotes and the shifting baseline syndrome of fisheries, in: Tree 10/10, 430.

Simon, F. B. (2002³): Die Kunst, nicht zu lernen, Heidelberg.

 

 

Dr. Katharina Dutz ist Diplomrehabilitationspädagogin, Sonderpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Technische Bildung an der Universität Oldenburg. Zu ihrem Forschungsbereich gehören u.a. Technikbewertung und Nachhaltigkeitskommunikation in Bildungskontexten. // Apl. Prof. Dr. Niko Paech studierte Volkswirtschaftslehre, promovierte 1993, habilitierte sich 2005, lehrt derzeit an der Universität Siegen im Bereich Plurale Ökonomik. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen insbesondere Klimaschutz, Produktionswirtschaft, nachhaltiger Konsum, Ökologische Ökonomik, Sustainable Supply Chain Management, Innovationsmanagement und Postwachstumsökonomik.

1 Kommentare

  1. Mathias Effenberger sagt am 14. Januar 2019

    Danke für diese messerscharfe Analyse der Fehlentwicklungen im Bildungssystem!
    Um meine Schnittwunden zu verbinden, wünsche ich mir dazu Ansätze und Beispiele, wie und wo dem Erfahrungswissen wieder mehr Raum gegeben und die Fähigkeit, sich in eine Tätigkeit zu versenken, mehr gefördert werden kann.
    Ihre These, dass Jugendliche und junge Erwachsene ihre Entwicklung ohne stabile Referenzpunkte in Hinblick auf Werte und Normen meistern müssen, halte ich für sehr pessimistisch. Als Eltern, Lehrer oder Dozenten vermitteln wir doch Werte und Normen an unserer Kinder, Schüler oder Studenten/Studentinnen, indem wir als Persönlichkeiten authentisch sind. Können wir im Vorhinein wissen, Wieviel davon „nachhaltig“ hängen bleibt?
    (Im Übrigen halte ich die von Pauly für den speziellen Fall des Fischereiwesens formulierten „shifting baseline syndromes“ auf Ihre hier formulierte These für unzulässig.)

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