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Wie verändert die Digitalisierung unsere Zeit?

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Das Tempo der Digitalisierung

Die gesamtgesellschaftliche und globale Entwicklung der Digitalisierung zeichnet sich durch ein rasantes Tempo aus. Einerseits durch ihre unglaubliche Dynamik der technischen Entwicklung und andererseits durch die Geschwindigkeit, mit der sie sich in allen Lebensbereichen durchsetzt, was gegenwärtig wie zukünftig zu nicht vorhersehbaren und grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen führt. »Disruptive Technologien« ersetzen herkömmliche Technologien und Verfahren in kürzester Zeit und verändern unsere Lebensgewohnheiten sowohl im Privat- als auch im Berufsleben. Eben noch Undenkbares wird morgen bereits alltäglich sein. Die Zukunft technologischer Entwicklungen scheint die Gegenwart geradezu zu überholen und die Vergangenheit als Relikt obsolet werden zu lassen. Der Allgegenwärtigkeit, mit der die Digitalisierung den sozialen Raum erobert hat, kann sich zukünftig keine/r entziehen, ohne gesellschaftliche Ausgrenzung zu erfahren.

Der digitale Takt der Zeit

Mit dem Durchdringen unserer Alltagwelt durch digitale Technologien findet ein Wandel in der Art und Weise, wie wir Zeit leben und wahrnehmen, statt; die digitalen Medien fungieren als »soziale Zeitgeber« (Nervala, 2010). »Doing Time« ist ein Freiheitsversprechen digitaler Technologien; die Menschen sollen selbstbestimmt und flexibel, raum- und zeitentgrenzt digital kommunizieren und konsumieren können. Aufgabe von Individuen ist es nunmehr, aus der digitalen »Jetzt-Zeit« – einer diskontinuierlichen Abfolge zerstreuter Zeitfragmente – sinnvolle Zeitstrukturen selbst herzustellen. Diese individuelle Zeitsouveränität besitzt jedoch einen bitteren ambivalenten Beigeschmack.

Einerseits werden Individuen vom verinnerlichten Selbstzwang getrieben, sich diesen schnellen Veränderungen nicht zu widersetzen, sondern alltägliche Gewohnheiten aufzugeben, sich möglichst selbst zu optimieren, zu flexibilisieren und zu organisieren. Andererseits geben bislang wenige Monopolunternehmen den globalen Takt vor und beanspruchen als »gierige Institutionen« (Coser, 2015) möglichst viel von unserer Zeit und Aufmerksamkeit, die als überaus heiß begehrte und knappe Güter so Macht und Kontrolle über unsere Zeit ausüben. Mehr und mehr werden das individuelle Leben und die gesamte Persönlichkeit zum Zwecke wirtschaftlicher Interessen vereinnahmt, bis ins Intimste hinein und bald schon direkt aus unserem Körper heraus, denn Mensch und Technik verschmelzen mehr und mehr. Aber nicht nur Facebook & Co sind an den Daten unserer Alltagsgestaltung, die wir bereitwillig als verfolgbare Spuren im Internet hinterlassen, interessiert, um lückenlos unser Verhalten zu erfassen und sogar darauf einzuwirken, sondern zunehmend auch Arbeitgeber, Krankenkassen, Banken oder staatliche Einrichtungen.

Wie soll ein gutes Leben im Digitalzeitalter aussehen? – Fragen, auf die wir als Gesellschaft Antworten finden sollten

Wie kann verhindert werden, dass es ein neue Massenarbeitslosigkeit gibt, wenn viele Jobs zukünftig überflüssig werden oder werden sich viele Menschen in einer sinnentleerten Zeit und einer digitalen Welt als Flucht(Sucht-)raum abgehängt von realen Lebensräumen wiederfinden? Wie können Arbeitszeiten gestaltet werden, damit »Digitalarbeiter/innen« nicht durch überlange und verdichtete Arbeitszeiten zu erschöpft für ein privates Leben sind? Könnten kürzere und flexiblere Arbeitszeiten mit mehr freier Lebenszeit ein zeitsouveränes Tun ermöglichen? Wie kann die private Lebenssphäre geschützt werden? Wird Privatheit zu einem Luxusgut, das sich nur wenige leisten können? Welche kollektiven Zeiten sollten als schützenswert erhalten bleiben, um gemeinsam verbrachte Zeit zu ermöglichen? Was und wie kann Bildung zu einer digitalen Zeitkompetenz als Dimension einer »Kulturtechnik des Digitalen« beitragen, um aufgeklärten und zeitsouveränen Umgang mit den digitalen Medien zu ermöglichen?

Gesellschaftspolitische Antworten fehlen bislang – besonders Deutschland tut sich sehr schwer mit dieser Digitalisierung! Doch Möglichkeiten und Chancen bieten die technologischen Entwicklungen durchaus. Zeitpolitik und Zeitforschung können helfen, Zeitkonflikte zu benennen, zu analysieren und Lösungswege aufzuzeigen. Wissenschaftliche Ansätze, die bereits in der zeitpolitischen Diskussion stehen, wie etwa das »Recht auf eigene Zeit« (Mückenberger, 2009), das Konzept der atmenden Lebensläufe (Jurzcyk/ Mückenberger, 2016) oder das Konzept »Zeitwohlstand« könnten z. B. als Denkansätze dienen.

»Das Recht auf eigene Zeit« –  Ein Menschenrecht im Sinne eines Guten Lebens

Das »Recht auf eigene Zeit« versteht Mückenberger als ein juristisch verankertes Menschenrecht, das einerseits als subjektives und andererseits als objektives Recht gedacht und »operationalisierbar« gemacht werden sollte (vgl. Mückenberger, 2004). Auf der subjektiven Seite müssen Individuen und Gruppen die Berechtigung erhalten, ihre eigenen zeitlichen Bedürfnisse gleichberechtigt durchsetzen zu können. Individuelle und kollektive Zeit darf nicht fremdbestimmt, nicht systematisch entwertet oder diskriminiert werden, wie beispielsweise die Zeit Arbeitsloser oder älterer Menschen. Ausreichend Zeit für gemeinsames Tun und Beziehungen muss zur Verfügung stehen. Objektives Recht auf eigene Zeit, auf der anderen Seite, muss die dafür entsprechenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beinhalten, die die zeitlichen Belange gesellschaftlich koordiniert und Lösungen in Bezug auf Wege und Instrumente zu deren Durchsetzung aufzeigt. Diese müssen „wirksam verhindern, dass die Menschen unlegitimiert durch private oder öffentliche Akteure ihrer Zeit enteignet oder dass über die Möglichkeit der Zeitverwendung in ungleicher Weise (vor allem geschlechterhierarchisch) verfügt wird.“ (Mückenberger 2004: 286)

Im Zuge der Digitalisierung erhält dieses Konzept eine neue Dimension von Aktualität, denn unvereinbar ist »Das Recht auf eigene Zeit« u. a. mit dem rasanten Tempo der Digitalisierung, der Zeitfragmentierung des Alltags und von Tätigkeiten, der ständigen Erreichbarkeit oder der Macht weniger globaler Monopolunternehmen.

Im Sinne eines Guten Lebens zielt »Das Recht auf eigene Zeit« auf eine gesunde Balance zwischen Beschleunigung und Entschleunigung, Anspannung und Entspannung, Bewegung und Ruhe, Alleinsein und Beisammensein, Erreichbarkeit und Nichterreichbarkeit und versteht sich als ein Selbstbestimmungsrecht über die eigene Zeit.

Die Zeit eilt! Die technische digitale Entwicklung vollzieht sich rasant und wird nicht aufzuhalten sein.

 

Literatur:

Baumgärtel, Tilman (2017): Texte zur Theorie des Internets. Ditzingen.

Coser, Lewis A. (2015): Gierige Institutionen. Berlin.

der blaue Reiter. Journal für Philosophie (1/2018): Die Seele im digitalen Zeitalter.

Großer, Elke (2016): Zeitwohlstand 4.0. http://www.postwachstum.de/zeitwohlstand-4-0-20160325

Großer, Elke (2016): Zeitwohlstand 4.0. In: Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (Hrsg.) (2016): Beiträge aus dem Netzwerk Zeitforschung der DGfZP. Zeitpolitisches Magazin Dezember 2016. Jg. 13 Ausgabe 29. S. 34-36. http://www.zeitpolitik.de/pdfs/ZPM_29_1216.pdf

Jurczyk Karin, Mückenberger Ulrich (2016): Arbeit und Sorge vereinbaren: Ein Carezeit-Budget für atmende Lebensläufe. körber impuls demografie Nr. 5. https://www.koerber- stiftung.de/fileadmin//user_upload/koerber-stiftung/mediathek/pdf/2016/Koerber_Impuls_Demografie_05_print_web.pdf

Mückenberger, Ulrich (2004): Metronome des Alltags. Betriebliche Zeitpolitiken, lokale Effekte, soziale Regulierung. Berlin.

Mückenberger, Ulrich (2009): Das Recht auf eigene Zeit. In: Zeitpolitisches Magazin Nr. 14. S. 2-3. http://www.zeitpolitik.de/pdfs/zpm_14_0709.pdf

Nervala, Irene (2010): Medien als soziale Zeitgeber im Alltag. Ein Beitrag zur kultursoziologischen Wirkungsforschung. In: Hartmann, Maren, Hepp, Andreas (Hrsg.): Mediatisierung der Alltagswelt. Wiesbaden. S. 183-194.

Spitz, Malte (2017): Daten – das Öl des 21. Jahrhunderts. Nachhaltigkeit im digitalen Zeitalter. Hamburg.

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