Mitteilungen

Wachstum mit Augenmaß

Schreibe einen Kommentar

Das Vermächtnis Hans Christoph Binswangers

Bereits im Juni 1969, nur wenige Tage nach seinem 40. Geburtstag und drei Jahre vor Erscheinen des berühmten Club-of-Rome-Berichts Grenzen des Wachstums, nutzte Hans Christoph Binswanger seine Antrittsvorlesung an der Universität St.Gallen (damals noch „Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“), um der Volkswirtschaftslehre einen blinden Fleck zu attestieren: Die gängigen Modelle der Wirtschaftstheorie übersähen den Produktionsfaktor Natur, dessen Verbrauch Binswanger schon damals – mit einem Fragezeichen versehen – als „Raubbau“ bezeichnete. Im Gegensatz zu Minenpächtern und Grundstücksbesitzern, so erläuterte Binswanger seinen Gedankengang später, könne die Natur nämlich keine Eigentumstitel oder Nutzungsrechte geltend machen; vielmehr werde sie ihrer Schätze gleichsam ohne Gegenleistung beraubt, und auch die ökonomische Theorie würde die natürlichen Ressourcen zu Unrecht als „frei“ betrachten. Gerade die natürlichen Ressourcen seien doch von Natur aus knapp, die Kosten ihres Verbrauchs also in die volkswirtschaftliche Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen!

Schon an dieser frühen Momentaufnahme zeigt sich, dass Hans Christoph Binswanger die „Ökonomie“ oder „Nationalökonomie“ – mit diesen Worten meinte er meist nicht die Wirtschaft, sondern deren wissenschaftliche Analyse – nie isoliert betrachtete. Binswanger argumentierte nicht theorieimmanent, sei es im Rahmen der ökonomischen Disziplin oder irgendeines anderen Ideengebäudes. Stattdessen unterwarf er die Theorie selbst dem zwingenden Urteil der Logik, die für ihn über jeder Theorie stehen musste. Konkret dachte er etwa an den Energieerhaltungssatz: In einem geschlossenen System kann die Gesamtenergie nicht zu- oder abnehmen, sie bleibt in der Summe konstant, und dasselbe muss sinngemäß für die Erde mit ihrem gegebenen Rohstoffvorrat gelten. Ein Wachstumsmodell, das zur Endlichkeit der Ressourcen im Widerspruch steht, konnte für Hans Christoph Binswanger weder wissenschaftlich noch praktisch irgendeine Relevanz beanspruchen.

Ins Positive gewendet musste die Entnahme von Ressourcen aus der Natur freilich als produktiver Akt aufgefasst werden, und in dieser Hinsicht war der Rohstoffverbrauch für Binswanger auch völlig legitim – unter einer Bedingung: Durch Effizienzsteigerungen, technologischen Fortschritt und die Wiederverwertung von Abfällen müsse die Verbrauchsrate jeder betreffenden Ressource so stark und kontinuierlich gesenkt werden, dass die endlichen Vorräte der Natur unendlich lange halten würden. Mit Vorräten waren dabei nicht nur Metalle, seltene Erden, Öl oder Gas gemeint – also Ressourcen, die immerhin auf Märkten gehandelt werden und insofern schon heute einen gewissen (Geld-) Preis haben. Binswanger dachte weiter: Auch solche Ressourcen, die unmittelbar zum Leben, zur Erholung des Menschen dienten oder einen kulturellen Wert darstellten, müssten geschützt werden – unsere Luft zum Atmen, artenreiche Gewässer, das historisch gewachsene Ortsbild und sogar die schützenswerte Landschaft, deren Erscheinungsbild Binswanger nicht durch Windkraftanlagen entwertet sehen wollte.

Es galt also, den Naturverbrauch und mit ihm das Wirtschaftswachstum auf ein nachhaltiges Maß zu reduzieren. So gehörte Binswanger zu den ersten, die das Wachstum nicht mehr als Maximierungs-, sondern als Optimierungsproblem analysierten. Eine gewisse Wachstumsrate hielt er zwar für notwendig, damit der Kreislauf aus Investition, Angebot und Rendite nicht zum Erliegen komme; denn das von Unternehmen bereitgestellte Güterangebot sei bekanntlich durch die Aussicht auf künftige Erlöse motiviert – eine erwartete positive Rendite, die gesamtwirtschaftlich nur durch Wachstum gewährleistet werden könne. So wollte Hans Christoph Binswanger denn auch gar nicht als Wachstumskritiker verstanden werden. Vielmehr machte er den von ihm so genannten „Wachstumszwang“ der Geldwirtschaft zum Kernbaustein seiner Analyse und postulierte eine Mindestwachstumsrate, die vermutlich bei ungefähr 1,8 Prozent liegen müsse.

Diesem sinnvollen und alternativlosen Wachstum, dem Wachstumszwang, stand aber laut Binswanger ein zusätzlicher „Wachstumsdrang“ zur Seite: die Gier nach noch mehr, die sich ebenso wie der Wachstumszwang historisch auf den Übergang von der Tausch- zur Geldwirtschaft zurückführen lasse. Während sich nämlich die Tauschwirtschaft – als Beispiel führt Binswanger das sibirische Volk der Ewenken an – noch auf die Deckung des gegebenen Güterbedarfs beschränkt habe, habe die Geldwirtschaft bei vielen die Hoffnung geweckt, durch immer größere Investitionen oder gar durch Spekulation immer größere Renditen zu erwirtschaften.

Diesen Wachstumsdrang und die durch ihn verursachte Übernutzung der Natur einzudämmen, war daher das erklärte Ziel vieler von Hans Christoph Binswanger vorgebrachter Vorschläge. Namentlich ging es etwa darum, haftungsbeschränkte Kapitalgesellschaften durch nachhaltigere Unternehmensformen zu ersetzen, Eigentumstitel wieder als Vermächtnis (Patrimonium) statt als willkürliches Nutzungsrecht (Dominium) zu verstehen und die Agrarwirtschaft, deren Effizienz sich nicht beliebig steigern lässt, von der kapitalmarktgetriebenen Wachstumsdynamik abzukoppeln. Auch die Bildung von Wirtschaftskrisen und Finanzmarktblasen würde sich vermeiden lassen, so Binswanger, wenn das Wirtschaftswachstum, statt zwischen Boom und Rezession hin und her zu schwanken, einer stetigen, gemäßigten Wachstumsrate folgen würde.

Wirklich faszinierend ist nun nachzuvollziehen, wie Hans Christoph Binswanger diese und weitere Erkenntnisse nicht nur in längst aufgegebenen, durch ihn wieder salonfähig gewordenen Vorläufern der heutigen (neoklassisch dominierten) Wirtschaftstheorie, sondern auch in antiken Mythen, modernen Gedichten, ja sogar in Träumen und Kunstwerken wiedererkannte. So wurde Binswanger zum Übersetzer, der die ökonomischen Weisheiten vorwissenschaftlicher Texte aus dem alten Duktus der Analogie in den heutigen Duktus der Abstraktion überführte: Die Göttin Demeter, der König Midas, Erysichthon und manche biblische Gestalt bis hin zum Zauberlehrling und den „Imsen“ in Goethes Faust – sie alle haben uns etwas zu sagen, und es ist wichtig! – In seiner unnachahmlichen, nüchternen Weise gelang es Binswanger, den ökonomischen Gehalt dieser alten Kulturschätze immer wieder engagiert und unterhaltsam auf den Punkt zu bringen, ohne belehrend zu wirken. Auch sein Appell, die gewonnenen Einsichten nun dringlich in die Praxis umzusetzen, hatte zu keiner Zeit einen moralisierenden, sondern immer bloß warnenden und mahnenden Unterton.

Im Januar 2018 ist Hans Christoph Binswanger im Alter von 88 Jahren verstorben. Das nächste runde Jubiläum – sein eigenes, aber auch das seiner denkwürdigen Antrittsvorlesung, die in Vorwärts zur Mäßigung (Murmann, 2009) im Wortlaut wiedergegeben ist – durfte er nicht mehr erleben. Wie schade, dass bei den „Grenzen des Wachstums“ meist an die verfehlten Prognosen von 1972 gedacht wird! Was Hans Christoph Binswanger zu jener Zeit auszuarbeiten begann, überschritt zumindest in der Wirtschaftswissenschaft alle bisherigen Grenzen und hätte durchaus das Zeug zu einem Paradigmenwechsel gehabt, wie er damals – und auch heute wieder – von vielen Intellektuellen gefordert wurde.

Spätestens mit seinem letzten Werk Die Wirklichkeit als Herausforderung (Murmann, 2016) hat Binswanger gezeigt, dass Ökonomie – also das wirtschaftliche Tun wie auch seine wissenschaftliche Betrachtung – eine sinnstiftende Tätigkeit sein kann, ja vielleicht als die sinnstiftend menschliche Tätigkeit überhaupt betrachtet werden muss. Jedenfalls sind die ökonomischen Analysen, die Binswanger hinterlässt, von ebenso bleibendem Wert wie die Fortsetzung des göttlichen Schöpfungsakts, die er in der Wertschöpfung durch unternehmerisches Handeln erblickte. Nun liegt es an uns, Binswangers Werk und Werte weiter wachsen zu lassen. „Vielleicht erhält mit dieser Aufgabe“, wie Binswanger selbst 1969 formulierte, „die Nationalökonomie erst ihre eigentliche strategische Bedeutung.“

Anmerkung der Blog-Redaktion:
Alle Beiträge der Artikelreihe zu Hans Christoph Binswanger sind hier zu finden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.