Standpunkte

Von langen Tischen und dem Wissen, was genug ist

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„Wenn du mehr hast, als du brauchst, dann bau einen längeren Tisch, keine höheren Mauern“. Als eine 19jährige US-amerikanische Studentin diesen Satz auf Facebook postete, hatte sie innerhalb weniger Tage 1,75 Millionen Likes und offenbar einen Nerv der Zeit und der Gesellschaft getroffen. Die Bilder von langen Tischen, die darauf folgten, sind zum Symbol für die sinnvolle Verwendung des Zuviel, für das Teilen und für etwas neues Gemeinsames geworden. Gerade im Kontext der Geflüchteten und Asylsuchenden taucht das Motiv des langen Tischs häufig auf.

Rückbesinnung auf Maß und Zweck des Wirtschaftens

Der Nerv der Gesellschaft lag durch die globale Vielfachkrise in den Jahren 2007 bis 2010 blank – die Finanzmarkt- und die real-wirtschaftliche Krise, Hunger- und Armutskrise, Klimawandel, Artensterben, Energieengpässe. Die Krise legte den Irrsinn eines ökonomischen Systems offen, das das ureigene Maß allen Wirtschaftens vergessen hat, nämlich Bedürfnisbefriedigung, Naturnutzung zum Zweck der Versorgung, von Sicherheit und Wohlergehen. Vielmehr ist die ultimative Triebkraft der globalisierten neoliberalen Ökonomie die Vermehrung von Geld. Die Funktionslogik, Gewinne und immer höhere Gewinne zu machen, zwingt zu ständigem Wachstum, zur Expansion der Märkte und der Kommodifizierung auch von dem, was bislang noch außerhalb des Marktes war, zur Intensivierung des Energie- und Ressourceneinsatzes, zur Maximierung der Effizienz, zur Erfindung neuer Instrumente des Profitmachens auf den Finanzmärkten und zur Kostensenkung durch Flexibilisierung von Arbeit. Dies alles erscheint als Sachzwang, der soziale und moralische Maßstäbe außer Kraft setzt und als universelles Maß für Arbeit, Ressourcen, Güter und Personen wirkt. Er ist eine Herrschaftstechnik, die nicht nur Wirtschaft und Politik regiert, sondern ebenso Alltagspraktiken, soziale Beziehungen, individuelles Verhalten und Subjektivitäten. Dadurch ist die Logik des Wachstum zu einer Form der Vergesellschaftung geworden, die genau so in den Köpfen steckt wie in den Strukturen. Die Handlungsmaxime des homo oeconomicus, der den Eigennutz steigert und effizient plant, gilt für alle und alles: ohne Wachstum kein Geld- und Güterwohlstand. Geld- und Güterwohlstand bedeuten Zufriedenheit und Glück.

Die Krisen nährten Debatten darüber, dass es „nicht weiter wie bisher“ gehen kann und ein Paradigmenwechsel notwendig ist, der den gordischen Knoten von Wachstumsdiktat, Profitmaximimierung, Effizienzsteigerung, Begierde nach Mehr, Beschleunigung und linearem Fortschrittsglauben zerschlägt. Gefühlt muss eine Wende her. Doch wie kann der vertrackte Wachstumsimperativ unterbrochen werden? Was kann diesen Sachzwängen entgegengesetzt werden? Wer kann eine Wende in Gang setzen? Diese Fragen stellen sich umso mehr, als Politik und Wirtschaft den Alltagsverstand in eine Schizophrenie befördern, indem sie verkünden, dass Wachstum der einzig mögliche Weg aus den Krisen sei, dass Markt und Technologien die Rezepte für die Krisenlösung bereithalten, nun „grünes“ Wachstum genannt.

Versorgungswirtschaft statt Sorgeextraktivismus und Krise der Reproduktion

Aus der Perspektive feministischer politischer Ökonomie realisiert sich der Wachstumsimperativ nicht nur durch die Verwertung von Lohnarbeit und natürlichen Ressourcen, sondern beruht auch auf der Nutzung von un- und unterbezahler Sorgearbeit, die das Soziale reproduziert, putzt und pflegt, windelt und wäscht, ernährt und regeneriert, Müll entsorgt, Tomaten zieht und Bäume vor dem Abholzen schützt. Perfiderweise setzen der Markt, die Waren- und Geldökonomie diese Sorgearbeit als unendlich dehnbar und „natürliche“ weibliche Fähigkeiten voraus, sodass man analog zum Ressourcenextraktivismus von Sorgeextraktivismus sprechen kann, sowohl auf nationaler als auch auf transnationaler Ebene.

Sorgearbeit gehorcht der Logik der Ver-, Für- und Vorsorge (care), des Sich-Kümmerns, mit einem eigenen Tempo. Als Dienstleistung wird sie zunehmend in den Arbeitsmarkt integriert und den Prinzipien von Produktivitäts- und Effizienzsteigerung, Konkurrenz und Rendite unterworfen. Sie ist gering bewertet und schlecht entlohnt, weil Unterrichten, das Füttern von Babys und Streicheleinheiten nicht beschleunigt werden können, als unproduktiv und nicht wertschöpfend gelten, weil sie keinen Warenwert erzeugen, sondern der Gewinn in scheinbar außerökonomischen Werten wie Zufriedenheit und sozialem Zusammenhalt besteht.

Der Irrsinn des Systems setzt sich darin fort, dass die Wirtschaft unter dem Wachstums-, Konkurrenz- und Effizienzzwang ihre eigenen lebendigen Grundlagen zerstört, weil sie sorg- und rücksichtslos gegenüber den menschlichen, sozialen und natürlichen Ressourcen ist. So kommt es zu einer Vielfachkrise der Reproduktion, die sich in wachsender sozialer Ungleichheit, im Notstand der Altenpflege, in fehlenden Kindertagesstätten, in Lebensmittelskandalen, in Burn out und Depression als Volkskrankheit, in der Bildungs- und Beschäftigungskrise der Jugend ebenso manifestiert wie im Klimawandel, in Ressourcenknappheit, dem Aussterben von Tier und Pflanzensorten, in Luft- und Wasserverschmutzung. Für breite Bevölkerungsschichten findet eine „Entsicherung“ von Arbeit, Wohnen und Leben statt. Trotz statistischen Wirtschaftswachstums, trotz Geld- und Güterwohlstand erodieren Wohlbefinden und Lebensqualität.

Genau den Mangel an Qualität und an Wertschätzung artikulierten in den vergangenen Jahren viele Streiks und Proteste im personennahen Dienstleistungsbereich. Die KiTa-Beschäftigten demonstrierten nicht nur für höhere Löhne, sondern für mehr Anerkennung ihrer Arbeit, Altenpfleger/innen forderten mehr Wertschätzung und eine Aufweichung der Pflegemodule, Pflegepersonal und Ärzt/innen in der Charité in Berlin sind so überlastet, dass sie keine Qualitätsbetreuung mehr gewährleisten können, die spanische Gruppe von „Zimmermädchen“, Las Kerries, schämt sich, dass sie es unter dem Zeitdruck der Pauschalbezahlung nicht mehr schaffen, die Hotelzimmer richtig sauber zu machen. Diese Kämpfe zeigen zweierlei: zum einen dass die Sorgearbeiter/innen nicht die Ausputzer/innen sein wollen, sondern anders arbeiten und wirtschaften wollen, zum anderen dass die Bedingungen des neoliberalen Marktes qualitätsvolle Sorgearbeit im Wachstumssektor Pflege und Betreuung oder personennahe Dienstleistung unmöglich machen.

Deswegen sind aus feministisch-ökonomischer Perspektive die Care-Arbeit und ihre intrinsische Logik ein Dreh- und Angelpunkt für Strategien der Entschleunigung, der Qualitäts- und sozialen Sicherung und des Wohlergehens. Sie sind ein Ansatzpunkt, um das Wirtschaften insgesamt aus der Perspektive des Versorgens und der Lebensqualität her zu denken. Es geht darum, die soziale, ökonomische und ökologische Bedeutung von Care zu politisieren – nicht zu romantisieren – mit dem Zielhorizont eines ‚guten Lebens für alle’. Versorgungswirtschaft bedeutet, dass die gesamte Wirtschaft vom spekulativen Kopf auf die versorgenden Füße zurückgestellt wird und die Grenzen des Wachstums im Sozialen, in der Menschlichkeit und in der Natur akzeptiert werden. Ziel ist eine Wiedereinbettung der Ökonomie in soziale und Naturzusammenhänge und eine Verknüpfung von sozialer Gerechtigkeit, Umwelt- und Geschlechtergerechtigkeit.

Der Artikel wurde zuerst, in leicht überarbeiteter Fassung, in der Zeitschrift Neue Wege (5/16) veröffentlicht.

Die Soziologin Dr. Christa Wichterich war zuletzt als Gastprofessorin und Dozentin für Geschlechterpolitik an den Universitäten Kassel und Basel tätig. Davor arbeitete sie als freiberufliche Publizistin, Buchautorin und Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Globalisierung und Frauenarbeit, feministische Ökonomie und feministische Ökologie, internationale Frauenpolitik und Frauenbewegungen. Ihre geographischen Arbeitsschwerpunkte sind Süd- und Südostasien, Ost- und Südafrika.

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