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Von der imperialen zur solidarischen Lebensweise

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Wer in ein Auto steigt, macht dies nicht, ohne sein direktes und indirektes Umfeld auf massive Weise mitzuprägen – über Ressourcenabbau, Produktionsbedingungen, Transportwege, Emissionen und Unfallrisiken; kurz: externe Effekte. Trotzdem steigen die Verkaufszahlen insbesondere von schweren und großen Geländewagen (SUVs) jährlich an. Dies ist eine der Entwicklungen, mit denen sich die Politik- und Gesellschaftswissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem Buch „Imperiale Lebensweise“ auseinandersetzen. Mit dem Terminus Lebensweise thematisieren sie die Verbindung von Alltagspraktiken und den Prozessen der Herstellung und Verteilung, die diese ermöglichen. Imperial daran ist, dass die sozial-ökologischen Folgen meist lokal oder global externalisiert werden. Damit wird das alltägliche Leben in den kapitalistischen Zentren „wesentlich über die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Naturverhältnisse andernorts ermöglicht“ (S. 43). Die imperiale Lebensweise basiert also auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft und reproduziert diese.

Die Autoren erläutern die historische Entstehung der imperialen Lebensweise anhand der Entwicklung des globalen Kapitalismus. Über ein hegemonietheoretisches Verständnis von Herrschaft und Prozessen der Subjektivierung beschreiben sie, dass die imperiale Lebensweise von immer mehr Menschen gelebt wird – auch wenn viele, objektiv betrachtet, dadurch erneute Benachteiligungen erfahren. Die Vertiefung der imperialen Lebensweise im globalen Norden und die Verallgemeinerung der imperialen Lebensweise im globalen Süden- also ein Anstieg ressourcenintensiver Lebensweisen- führen zu neuen „ökoimperialen Spannungen“, denn die Möglichkeiten der Externalisierung schwinden dahin, je mehr Menschen Anspruch auf eine imperiale Lebensweise stellen. Somit sind auch aktuelle Flucht- und Migrationsbewegungen oder die Aushandlungen um internationale Klimaabkommen in diesem Kontext zu betrachten. Die Autoren deuten nationale und internationale Ansätze wie die Abwrackprämie oder die Verabschiedung der nachhaltigen Entwicklungsziele als „Ahnung der globalen politischen Eliten“ (S. 27), dass die Entwicklungsstrategien des kapitalistischen Weltmarktes nicht weiter uneingeschränkt funktionieren. Zugleich schildern sie anhand der ökologischen Modernisierung der Automobilität sowie Ansätzen der grünen Ökonomie und Umweltpolitikinstrumenten wie Offset-Handel, wie diese „falschen Alternativen“ (S. 147) zur kapitalistischen Inwertsetzung von Natur führen und neue Formen der Einhegung, der Marginalisierung und der kapitalistischen Landnahme zur Folge haben können.

Um den Leser/innen auch positive Ansätze und Mut für Alternativen mit auf den Weg zu geben, skizzieren sie Konturen einer solidarischen Lebensweise als Gegenmodell zur imperialen Lebensweise. Sie argumentieren, dass Formen des Zusammenlebens geschaffen werden müssen, die nicht auf Prekarisierung von Menschen und gesellschaftlicher Naturverhältnisse basieren. Gefördert werden könne die solidarische Lebensweise durch politische Regeln, gesellschaftliche Leitbilder, die politischen Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise, die Einhegung und das Zurückdrängen imperialer Praxen und die Ausweitung von Räumen und Bündnissen, die emanzipatorisches Handeln ermöglichen. Damit müsse ein hegemoniefähiges Projekt erfahrbar und attraktiv sein und Lernprozesse ermöglichen. Sie empfehlen, diesen Prozessen ein „empathisches Verständnis von Demokratie“ als Leitidee zugrunde zu legen, in dem all diejenigen in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, die von den potentiellen Auswirkungen der Entscheidung betroffen sind.

Brand und Wissen führen die Leser/innen strukturiert durch ihre Kritik und veranschaulichen ihre Analysen in acht Kapiteln anhand vieler Beispiele. Das Buch liest sich gut und ist gleichzeitig gespickt mit viel Input und Erläuterungen, die die Absurdität unserer individuell bestimmten und dennoch strukturell geprägten Lebensweisen veranschaulichen.

Die einzelnen Analyseelemente sind nicht grundsätzlich neu, doch die gemeinsame Konzeptualisierung von Alltagspraxen und gesellschaftlichen Strukturen im Begriff der imperialen Lebensweise ermöglicht es, aktuelle Krisenerscheinungen und Versuche, diese zu überwinden, gemeinsam zu denken und strukturelle Probleme zu identifizieren. Damit hilft der Begriff auch, zu verstehen, warum etablierte Formen globaler Umweltpolitik ineffektiv sind und zeigt zugleich Voraussetzungen, Ansatzpunkte und Formen einer emanzipatorischen Politisierung der ökologischen Krise und emanzipatorischer Projekte auf.

 

Brand, Ulrich / Wissen, Markus. 2017. Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur in Zeiten des globalen Kapitalismus. München: oekom Verlag.

 

Diese Rezension wurde in der Print-Ausgabe der Ökologisches Wirtschaften 3/2017 veröffentlicht.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin und promoviert zur Aushandlung von Umweltrisiken im städtischen Raum. Sie hat in Berlin und Neu-Delhi Geographie, Umweltpolitik und Umweltplanung studiert, die EcoMobility World Festivals in Südkorea, Südafrika und Taiwan dokumentiert und einige Jahre am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung gearbeitet.

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