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Vollgeld als ein Reformschritt in die Postwachstumsgesellschaft

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Angesichts der sich zuspitzenden ökologischen Begrenzungs- und der im fünften Jahr befindlichen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrisen stellt sich die Frage dauerhafter, langfristiger Lösungen. Ein in der öffentlichen Diskussion kaum beachteter (da den Interessen der Finanzoligarchie widersprechender) Vorschlag ist die Einführung von Vollgeld (bzw. 100%-Geld nach I. Fisher). Der Vollgeld-Vorschlag setzt primär auf Regeln und klare Institutionalisierungen und kalkuliert die begrenzte Rationalität der Markt- und Staatsakteure ein.

Der Ansatz geht auf die 1930er Jahre (Weltwirtschaftskrise) zurück, er fand Anhänger sowohl im marktliberalen Lager (H. C. Simons), als auch z.B. bei einigen Postkeynesianern (H. Minsky). In Deutschland wird der Vorschlag von der Monetative-Initiative (J. Huber: Monetäre Modernisierung, Metropolis 2010) und in den USA vom American Monetary Institute (S. Zarlenga: Der Mythos vom Geld, Conzett 2008) propagiert.

Geldschöpfung als eine Ursache der Finanzkrisen

Als eine elementare Ursache der Krisen der letzten Jahre ist die exzessive Kreditvergabe an amerikanische Hauskäufer, öffentliche Institutionen usw. anzusehen. Diese Kreditvergabepraxis führte zu ausgeprägten Boom-Bust-Zyklen. Mit 2% Mindestreservepflicht können Privatbanken aus 2 Euro Zentralbankgeld bis zu 100 Euro Kredite vergeben, d.h. Geld schöpfen und kräftig die Geldmenge erhöhen (oder einschränken). Bei einer Krediteinräumung von 1000 Euro und einem einheitlichen Zinssatz von 10% erhält die Gläubigerbank am Ende des Jahres 100 Euro Zinsen, von denen 2 Euro Zinszahlung für die annahmeweise ausgeliehene Mindestreserve abgehen. Der staatliche Zugewinn (Seigniorage) beträgt also 2 Euro und der der Privaten 98 Euro.

Dieser gigantische Kredit- und Gewinnhebel trug wesentlich zu den diversen Immobilienbooms, Spekulationsblasen und weltweiten Verschuldungskaskaden bei. Mit wenig Eigenkapital (Staatsanleihen sind u.a. deshalb beliebt, weil für sie in der Regel dank Basel II eine Eigenkapitalhinterlegung von Null gilt) wird immer wieder ein riskantes Rad gedreht, da Geld von den Banken aus dem Nichts geschaffen werden kann. Somit lässt sich für einige Zeit viel Geld verdienen, bevor der jähe Absturz droht. Der privatkapitalistischen Geldschöpfung kann eine EZB ohne konjunkturabwürgenden Vorschlaghammer wenig entgegen setzen. Tatsächlich läuft sie den Entwicklungen hinterher und versucht, das Finanzsystem und den Zahlungsverkehr durch Geldüberflutungsaktionen flüssig zu halten, deren Einsatz für realwirtschaftliche Investitionen sie intendiert, deren häufige tatsächliche Verwendung für Assetpreisspekulation sie aber machtlos gegenübersteht.

Das Vollgeld

Zur Begrenzung der ständigen Kredit- und Verschuldungsorgien kann der alte Vorschlag des 100%-Vollgeldes (bzw. einer 100%igen Mindestreserve) aufgegriffen werden: Gelder, die auf ein Girokonto wandern, dürfen nicht weiter ausgeliehen werden. Man kann Geld alternativ auch weiterhin auf ein Sparkonto für eine bestimmte Zeit anlegen. Nur diese gesparten Gelder dürfen (unter Wahrung von Fristigkeitsaspekten) von Finanzinstituten als Kredite ausgeschenkt werden. Der Geldschöpfungsmultiplikator würde drastisch sinken, im Prinzip geht nämlich jedem Kredit ein Sparprozess voraus. Gigantischen Schuldenbergen wäre ein Riegel vorgeschoben und die Zentralbank hätte zudem wieder eine echte Kontrolle über die Geldmenge.

Die meisten Menschen und Politiker haben nicht verstanden, dass in einem System mit Papiergeld Geld keine Ware, sondern ein vom Staat geschaffenes Rechtsinstitut ist. Mit § 123 EU-Vertrag (keine direkte Geldvergabe der Notenbank an die EU oder an Einzelstaaten) haben sich die Euroländer den Kapitalmärkten unterworfen und somit die Probleme mit hervorgerufen, vor denen man jetzt steht.

Die Alternative lautet: Da Papiergeld immer ein öffentlich produziertes Gut aus dem Nichts ist, sollte die EZB den Staaten direkt und kostenlos frisches Zentralbankgeld in die Hand drücken und weder Tilgung noch Zins verlangen! Das frische Geld geht also nicht an die Banken, die es dann z.B. wie zurzeit für Spekulation in Rohstoffe, Aktien oder Währungen anlegen können. Die Staaten würden das Geld durch Realinvestitionen in Bildung, Soziales oder Infrastruktur in Umlauf bringen. Der nicht nur in Deutschland vorliegenden negativen staatlichen Investitionsquote wäre Einhalt geboten. Die USA, bei denen es in Grenzen eine solche Direktfinanzierung seit langem gibt, müssen hierbei allerdings nicht unbedingt als Vorbild dienen. Als Zuteilungsregel sollte vielmehr jedem Eurostaat Geld in Abhängigkeit von seinem Potentialwachstum zugeteilt werden, vereinfacht ausgedrückt: steigt das nationale Wirtschaftswachstum um 2%, so steigt auch die zugeteilte Geldmenge inflationsneutral um 2%.

Die Zuteilungsregel

Die Berechnung des Potentialwachstums wird seit Jahren z.B. von der Deutschen Bundesbank vorgenommen. Unbestritten ist hierbei das Problem der unterschiedlichen möglichen Berechnungsmethoden. Die Berechnungsmethode wird zum Politikum, da jedes Land in Abhängigkeit seines Wachstumspotentials das kostenlose frische Geld erhält. Die Verführung zur „Aufrundung“ ist daher groß. Im Falle Deutschlands beträgt der Wert dieser Zuteilung in 2010 bei 3,5% Wachstum rund 70 Mrd. Euro! Diese sogenannte Seigniorage wird heute zu einem guten Teil von den Privatbanken im Prozess der Geldschöpfung eingesteckt, es merkt nur kaum jemand. Man hätte mit dem neuen Geldsystem also nicht nur keine Neuverschuldung, sondern einen Überschuss. Dann würden die Regierenden nicht mehr im Glauben sein, die Unterstützung der sozial Schwächsten weiter kürzen zu müssen. Angesichts dieser Summe sollte es den Staaten nicht allzu schwer fallen, ein Gegengeschenk zu erbringen: Im Regelfall soll eine Staatsverschuldung z.B. über Anleihen untersagt sein. Vorauseilend gibt es in Deutschland bereits die Schuldenbremse im Grundgesetz.

Vorteile des Vorschlages

Durch die neue Zuteilungsregel wäre die EZB nicht mehr die Bank der Banken, die sich nach Umsetzung der Reform auf weniger Abenteuerlust einzustellen hätten, da ihr die EZB als Dauerausputzer über die Hauptrefinanzierungsgeschäfte nicht mehr zur Verfügung stünde. Man hätte auch das Problem eines einheitlichen Zinssatzes in Euroland gelöst. Denn frisches Geld wird ja nach länderspezifischem Wachstumspotential zugeteilt. Damit wird auch sichergestellt, dass die tüchtigen Länder belohnt werden, anstatt die Länder mit lockerem Zügel zu bezuschussen. Darüber hinaus würde das Entfallen der Staatsverschuldung angesichts der zunehmenden Einkommens- und Vermögenskonzentration eine Milderung der Reichtumskonzentration mit sich bringen. Denn zum einen stünde dadurch mehr Geld für öffentliche Güter zur Verfügung, weil die entfallene Bedienung des Schuldendienstes die Spielräume innerhalb der öffentlichen Haushalte nicht mehr beeinträchtigen würde. Und zum anderen fielen keine Zinseinnahmen durch den Besitz von Staatsanleihen beim oberen Viertel der Bevölkerung mehr an.

Es bedürfte auch keiner Kontrolle der nationalen Budgets durch die EU-Kommission, keiner Eurobonds und keiner einheitlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Durch die Ausschaltung der Finanzbranche als Intermediär beim Verkauf der Staatsanleihen entfielen auch die nicht gerade niedrigen Gebühren als Sickerverluste. Man wäre unabhängig von den Attacken der Kapitalmärkte und den Urteilen privatwirtschaftlicher Ratingagenturen. Man wäre nicht mehr auf ein funktionierendes internationales Währungssystem angewiesen, welches auch nach dem Treffen der G­20 in Paris in den Sternen stehend. Trotz der Schuldenbremse könnte eine Strukturpolitik für öffentliche Güter erfolgen. Die Geldzufuhr verliefe über den Realsektor. Der Spekulation auf den Finanzmärkten und der Prozyklizität durch Kreditkaskaden wäre ein Riegel vorgeschoben.

Beseitigung des Wachstumszwangs

Inwiefern befindet man sich mit dem Vollgeldvorschlag auf dem Weg in die Postwachstumsgesellschaft? Zum einen haben wir es mit einer elementaren Umverteilung der Geldschöpfungsgewinne zu tun, die heute fast ausschließlich bei den privaten Finanzinstituten anfallen und in Zukunft vollständig beim Staat bzw. der Gesellschaft anfallen würden. Da der Staat sich nicht mehr neuverschulden muss und darf, entfällt der Wachstumszwang.

In der heute verfassten Wirtschaftsweise entsteht ein Zwang zum Wachsen, da Zinsen in aller Regel nur aus einem höheren BIP gezahlt werden können. Generell gilt: Eine auf Dauer stabile Staatsverschuldung ist nur dann gegeben, wenn der Realzins unter dem Realwachstum liegt. Deshalb fordert auch zurzeit der offizielle Politsektor unisono höhere Wachstumsraten als Kernelement der Lösung der Verschuldungskrise, ungeachtet aller täglichen ökologischen Warnsignale. Hinzu kommt, dass diese Strategie prinzipiell zum Scheitern verurteilt ist, da massiver Schuldenabbau nur durch eine Währungsreform, mehr oder minder geordnete Staatsbankrotte oder massive Inflation zu „lösen“ ist. Da sich Staaten jedoch nur bis zu einer gewissen Grenze über Steuern finanzieren können (Steuerwiderstand usw.), bleibt im gegenwärtigen System nur die Verschuldung über Staatsanleihen. Frische Geldzufuhr erfolgt über Kreditfinanzierung und Verschuldung der Privatbanken bei der Zentralbank. Somit gilt: Die Struktur unserer Geldverfassung und Staatsfinanzierung sowie den steigenden Geldvermögen zwangsläufig gegenüberstehenden höheren Schulden, die mit Zins zurückgezahlt werden müssen, erzwingen Wachstum, um diesen Kreislauf aufrecht erhalten zu können. Der hier vorgetragene Vollgeldvorschlag soll diesen strukturellen Problemen unserer Geldordnung begegnen.

Die Postwachstumsgesellschaft

Auch gäbe es bei Vollgeld keine Zinsen mehr auf den Girokonten, da bei 100%iger Deckung die Banken das Geld nicht mehr „arbeiten“ lassen dürfen. Auch kann man erwarten, dass es nicht so häufig zu verschwenderischen Fehlinvestitionen in Boomphasen kommt. Durch die Beseitigung des heutigen Geldschöpfungsprozesses wird man weniger leicht an liquide Mittel herankommen. Dadurch wird der die Geldschöpfung mitverursachende manische Aufschwungsprozess stark gedämpft.  Da die mit den heutigen Finanzspielen entstehenden Phantomvermögen und –einkommen durch Vollgeld und begleitende weitere Reformen (H. Peukert: Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise, Metropolis 2011) verschwinden würden, wäre dem heimlichen Ideal des egoistischen, raffinierten Wall Street-Gekos, der sich reich und arrogant über die kleinbürgerlichen kommunitaristischen und demokratischen Ideale der Gesellschaft lustig macht, der Stachel gezogen. Die Chancengleichheit lokal-regionaler (Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken, in den USA die Credit Unions) und ethisch-ökologischer Banken würde erhöht. Heute können diese Institute aufgrund des Unterlassens spekulativer Aktivitäten durch Investmentbanken, Fonds usw. (die über die Rettungsaktionen der EZB und des Staates zu Lasten der Steuerzahler bei mittlerweile regulären Fehlschlägen aufgefangen werden) nur geringere Zinsen und Renditen (wegen des für Kunden nur schwer erkennbaren geringeren Risikos) bieten. Durch Vollgeld und die Zuleitung frischen Geldes über Geschenke an die Gesellschaft bzw. den Staat wäre insgesamt einer ökologischen Balance, einer gleicheren Verteilung, einer lebendigen Demokratie und Finanzstabilität gleichermaßen gedient.

William Greider hat für die USA die Einrichtung einer Federal Recovery and Reconstruction Bank vorgeschlagen (New Economic Working Group: How to liberate America from Wall Street Rule, S.29). Über sie wird frisches Geld in die Ökonomie injiziert und zwar durch Projekte zur Schaffung einer grünen Infrastruktur unter besonderer Berücksichtigung lokaler Anbieter. Nur so lassen sich auch zum Teil vermeintlich widersprüchliche Ziele erreichen, nämlich die radikale Durchführung eines Green New Deal, der Abbau und die Vermeidung weiterer (privater und) Staatsverschuldung, stabilere Finanzmärkte und eine Demokratisierung des Geldwesens (wer entscheidet über die durch neues Geld mögliche Kommandierung von Arbeit und Investitionen?).

Zugestanden: mit dem Vollgeldvorschlag sind zahlreiche technische, aber auch grundsätzliche Fragen und Probleme verbunden:

Wie weit muss die Fristentransformation gesichert sein, dürfen Sparer vorzeitig ihr Geld abheben usw.? Soll die Zentralbank dem Finanzministerium unterstellt werden oder weitestmöglich unabhängig sein? Soll die Zuteilung abhängen vom Potentialwachstum sein oder jedes Jahr zu einem festen Prozentsatz erfolgen?

Doch im Interesse Europas wäre es erfreulich, wenn man sich im heutigen politischen EU-Hühnerhaus, in das der Finanzfuchs gelegentlich den Kopf hineinsteckt und Panik auslöst, ein wenig Zeit nehmen würde, um jenseits des alltäglichen hektischen Aktivismus und des eigenen, engen nationalen Gartenzauns, aber auch falsch verstandener Solidarität und der zentralistischen Gelüsten der EU-Institutionen über zentrale Ursachen und nötige ökologische und Finanzmarktreformen nachzudenken, auch wenn diese den Interessen der Finanzbranche erst einmal zuwiderlaufen.

Dr. Dr. Helge Peukert ist Prof. für Plurale Ökonomik im Masterstudiengang an der Universität Siegen. Neben Ansätzen der heterodoxen Ökonomie, Wissenschaftstheorie und der Ökonomie des öffentlichen Sektors befasst er sich auch mit der Geschichte des ökonomischen Denkens, dem Finanzsektor und den Grenzen des Wachstums. Er ist u.a. Mitglied der Monetative, des Netzwerkes Plurale Ökonomik und des wissenschaftlichen Beirats von attac. Sein neuestes Buch „Klimaneutralität jetzt!“ (April 2021) untersucht die nicht ausreichenden Maßnahmen zur Verhinderung der Klimakatastrophe.

2 Kommentare

  1. Danke Herr Prof. Peukert!
    Sie bringen immer klare und deutliche Argumente in die Diskussion ein.
    Wie nah ist Ihre Position an der von Randall Wray, Bill Mitchell, Warren Mosler, und Stephanie Kelton vertretenen Modern Money Theory (MMT) ?
    Die MMT sieht einen Staat mit vollständiger Geldsouveränität ( unter Vorraussetzung von Fiat Money, non convertible und flexible exchange rate) immer befähigt seine Haushaltsausgaben mit der Druckerpresse zu gestalten (ähnlich wie die Greenbacker), ohne dem Kapitalmarkt unterworfen zu sein.
    Aus Sicht der MMT ist der Euro eine staatenlose Währung. Die EZB hat nicht die Souveränität von FED & Treasury.
    Als Lösungsvorschlag sagt die MMT voraus, dass entweder die EZB alle Staats und Bankenschulden aufkaufen wird ( geldpolitischer Eurozentrismus), oder das die Einzelstaaten zurückgehen zu eigener Währungshoheit ( monetärer Nationalismus).
    Als verantwortungsbewusster Wähler scheint mir hier eine konsequente politische Positionsbestimmung nur bei der Linken einerseits und bei der AfD andererseits vorzuliegen. Alle anderen Parteien scheinen mit Mischkonzepten ( ein bisschen Austerität, Investitionshilfe, Rettungsfond, Teilhaftungsunion) auf Zeit zu spielen – oder?
    Kann ein vorläufiger kommunitaristischer Rückzug zum System freier Wechselkurse und nationaler Bankenregulierung dem globalen Finanzkapitalismus den missbräuchlichen Zugriff auf eine zentrales EU- Geldsystem erschweren?
    (Ist so eine kommunitaristische Michael Hudson Interpretation tragfähig?)
    beste Grüsse BR

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