Rezensionen

Vielschichtig und differenziert: Der Postwachstumsatlas

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Dass es mit dem Wirtschaftswachstum auf einem begrenzten Planeten nicht ewig so weitergehen kann, ist inzwischen vielen Menschen klar. Was jedoch alles damit zusammenhängt – sowohl mit dem Wachstum selbst als auch mit der Abkehr von demselben – ist oft nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Unter dem Motto „weniger wird mehr“ gibt der „Postwachstumsatlas“ von Le Monde diplomatique in Zusammenarbeit mit dem Jenaer Forschungskolleg Postwachstumsgesellschaften Einblicke in die vielschichtigen Facetten des Themas.

„Weniger wird mehr“ ist hier allerdings nicht als kapitalistisches Heilsversprechen zu verstehen, das, ganz im Sinne der Effizienzideologie, mehr Output mit weniger Input verspricht. Es steht vielmehr für einen Suchprozess nach etwas originär Anderem und Besseren, das bislang erst in Ansätzen vorhanden ist. So wird auch die Frage „Wachstum ja oder nein“ gar nicht mehr diskutiert. Die Autor*innen sind sich weitestgehend einig, dass das Festhalten am Wachstumsdogma keine Lösung sein kann. Dies tritt bereits im ersten Teil des Hefts klar hervor, der einen Überblick über die verschiedensten sozialen und ökologischen Auswirkungen des Wachstums weltweit gibt und diese in den Kontext der Funktionsweisen des globalisierten Kapitalismus stellt. So wird deutlich, dass Wachstumskritik immer auch Kapitalismuskritik sein muss – unter Einbeziehung der ökologischen Frage.

Wachstum als Ursache für unterschiedlichste Krisen und Konflikte

Am interessantesten an dieser Aufsatzsammlung ist vielleicht der Bereich, der unter „Krisen und Konflikte“ zusammengefasst ist. Neben den eher bekannten Konfliktfeldern wie zum Beispiel den sozialen Auswirkungen der Ressourcenausbeutung in Lateinamerika – im Positiven wie im Negativen -, der Zerstörung traditioneller Subsistenzwirtschaft im globalen Süden, Landgrabbing und der Ausbeutung des weltweiten „Proletariats der Globalisierung“ geht es auch um Themen, die bisher nur sehr wenig Beachtung finden, selbst in der wachstumskritischen Öffentlichkeit: Der Artikel „Sand, ein knappes Gut“ beschreibt, wie die Nachfrage aus der Bau-, Mineral- und Frackingindustrie die globalen Sandvorkommen erschöpft und steht damit stellvertretend für die Verknappung immer weiterer Ressourcen durch die Wachstumsmaschinerie. Dass sich auch die scheinbaren Profiteure des gegenwärtigen Systems dessen zerstörerischen Logik wohl langfristig nicht entziehen können, zeigt besonders der Aufsatz „Deutschland, der eingebildete Gesunde“, der darlegt, dass der „Exportweltmeister“ nur scheinbar vom Sozialdumping profitiert.

Die Vielschichtigkeit der in der Problemanalyse dargestellten Themen einerseits und ihr ursächlicher Zusammenhang mit der kapitalistischen Wachstumslogik andererseits weisen darauf hin, dass all die beschriebenen Problematiken nicht einzeln, sondern nur in ihrer Gesamtheit gelöst werden können – und deshalb in den Suchprozess nach der Gestaltung des Post-Wachstums mit einbezogen werden müssen. Da wäre zum Beispiel der Ruf nach mehr sozialer Gleichheit von Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, die erklären, warum die Postwachstumsgesellschaft radikal umverteilen muss; da wäre die Auseinandersetzung mit einer postwachstumskompatiblen Technik und das Anerkennen von „blinde Flecken“ des Postwachstumsdiskurses, die Adelheid Biesecker und Uta von Winterfeld aus feministischer Perspektive beleuchten.

Dies ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt der in der Sammlung behandelten Themen und Perspektiven. Weitere punktuelle Beispiele sind so unterschiedliche Dinge wie der Konsumwahn der neuen Mittelschichten in China – und der zunehmend verarmenden Mittelschicht in den USA -, die Verdichtung und Beschleunigung von Zeit, für die die häufig geforderte Entschleunigung aber auch keine Lösung sei, und die schlechte Bilanz der erneuerbaren Energien was soziale Dinge wie Lohnniveau und Mitbestimmung betrifft. Weitere Themen, die in einer solchen Sammlung auf keinen Fall fehlen dürfen, sind das Konfliktfeld Naturausbeutung versus Armutsbekämpfung in Südamerika, die Finanzialisierung der Welt, Rebound-Effekte und eine Abrechnung mit der Illusion vom sauberen Wachstum. Wer einen Überblick über die gesamte Bandbreite des Atlasses möchte, kann online im Inhaltsverzeichnis stöbern

Fazit: der Atlas ist auf jeden Fall interessanter Lesestoff und hält auch für diejenigen, die bereits tiefer mit dem Thema vertraut sind, einige Aha-Effekte bereit. Gleichzeitig ist er eine gute und differenzierte Einführung in den Wachstumsdiskurs und somit auch für eine breitere Leser*innenschaft gut geeignet.

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