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Pirat des Raumschiffs Erde

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Der stellvertretende Vorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz, forderte das Ende der Nachhaltigkeitslüge und provozierte eine Wachstumsdebatte in der FAZ. Er akzeptierte, dass unbegrenztes Wachstum nicht möglich ist, und fordert, dass wir lernen müssen, „Zufriedenheit abseits des Ressourcenverbrauches“ zu finden. Doch die Probleme liegen tiefer.

Nerz sieht uns wirtschaftlich gerade am Ende der Party angelangt: die Stimmung noch gut, aber der Kater unausweichlich. Dabei lässt er unberücksichtigt, dass die Drinks schon in den letzten Jahren auf Pump finanziert wurden – nicht nur in ökologischer Hinsicht. Zwischen den Jahren 2005 und 2006 stieg die Staatsverschuldung um doppelt so viele Euros wie das Bruttoinlandsprodukt – und das vor der Krise, im „robusten Aufschwung“. Daher ist zu bezweifeln, dass die Politik Wachstum heute überhaupt noch schuldenneutral ankurbeln kann. Mehr noch: Das Wachstum wurde durch massive Einschnitte in die Sozialsysteme und sinkende Reallöhne im Niedriglohnbereich gefördert, weshalb Teile der Gesellschaft die Wachstumsparty ohnehin schon frühzeitig verlassen haben.

Nach den wohlstandsmehrenden Errungenschaften durch das „Wachstumswunder“ der Nachkriegszeit gilt es, die ökologische wie soziale „Wachstumswunde“ nicht weiter aufreißen zu lassen, die durch ein „Zu viel war nicht genug“ entsteht. Nach dem Abschied von der Illusion, die drängenden Probleme unserer Zeit mit Wirtschaftswachstum lösen zu können, müssen wir untersuchen, warum wir zum Wachstum gezwungen sind – denn nicht nur in unsere Köpfe, auch in die von ihnen erdachten Strukturen ist Wachstum eingeprägt. Nerz erkennt, dass der aktuelle „Apparat“ in seiner Komplexität unüberschaubar geworden ist, wir befinden uns im Wunderland, das unsere kognitive Grenze überschreitet. Doch im Gegensatz zu den Naturgesetzen können wir die gesellschaftlichen Strukturen und Regularien verändern – und so eine größere gesellschaftliche Robustheit gegen Krisenphänomene aller Art erreichen. Doch solange Ökonomen an Marktgleichgewichte glauben und Herdenverhalten und Crashs aus ihren Modellen fernhalten, ähneln sie einem Geologen, der die Plattentektonik nur zwischen den Erdbeben erklären könnte. Dies führt unter anderem dazu, dass Konjunkturprognosen schon in Vorkrisenzeiten bescheidene Treffsicherheiten aufweisen und ihre Publikation sogar eingestellt wird, sobald sie zur Entscheidungsfindung unabdingbar wären.

Gleichermaßen kann keine vernünftige Wirtschaftslehre die Auswirkungen des Geldkreislaufs auf die Realwirtschaft ignorieren. Denn während die Wirtschaftsleistung immer langsamer wächst, trifft dies auf die Staatsverschuldung nicht zu. Nerz liegt richtig, dass die Neuverschuldung gedeckelt werden muss, um ökonomische Nachhaltigkeit zu erreichen. Hierfür bringt er die Schuldenbremse ins Spiel. Doch da jeder Schuld ein Guthaben in derselben Höhe gegenübersteht, muss für eine funktionierende Bremse das Wachstum der Guthaben verhindert werden, weil sich sonst an Stelle des Staates private Haushalte, Unternehmen oder Kreditnehmer im Ausland verschulden müssen. Diese Verschuldungsdynamik stößt jedoch – wie gerade in der Eurozone – an Grenzen. Und ein globaler Abbau der Staatsverschuldung ist so keinesfalls zu erreichen. Solange Guthaben sich dank positiver Rendite vermehren, darf daher bezweifelt werden, dass unser Finanzsystem mit Schrumpfen überhaupt kompatibel ist. Als möglicher Ausweg bleibt, die Erträge zu kompensieren – am einfachsten durch eine Vermögenssteuer. Wenn kein wachsender Kuchen mehr zur sozialen Befriedung eingesetzt oder zumindest in Aussicht gestellt werden kann, ist die gesellschaftlich unbequeme Verteilungs- und Gerechtigkeitsdebatte ohnehin unausweichlich – und ohne sie mögen vermeintlich nachhaltige Wirtschaftsformen sogar „gefährlich“ sein.

Hierfür ist jeder gefordert, seinen persönlichen Weg zu finden, sich vom Wachstum zu entkoppeln, damit die Politik keine expliziten Lebensweisen vorgeben muss. Andererseits müssen die wirtschaftspolitischen Maßnahmen ausgearbeitet werden, die ersteres überhaupt ermöglichen. Beides erfordert einen konstruktiven und öffentlichen Wettstreit der Konzepte und Meinungen – ob es hierbei zuträglich ist, andere als „Nachhaltigkeitslügner“ zu bezeichnen, mag Herr Nerz selbst beurteilen.

Mit dem Thema „Geld und Wachstum“ setzt sich die Jahrestagung 2012 der Vereinigung für Ökologische Ökonomie vom 20. bis 22. September 2012 in Freiburg im Breisgau auseinander.

Oliver Richters, studierter Physiker, ist Doktorand am Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Von 2012–16 war er Vorsitzender der Vereinigung für Ökologische Ökonomie. Er ist aktiv in den Netzwerken Plurale Ökonomik und Wachstumswende sowie in der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe nachhaltiges Geld.

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