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Läuft bei Degrowth?

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Mit dem Sammelband Degrowth in Bewegung(en) geben das Konzeptwerk Neue Ökonomie und das DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften dem Begriff Degrowth endlich ein Gesicht. Im Buch entfaltet sich ein Gespräch zwischen verschiedenen Aktivist/innen, wodurch es die  unterschiedlichen Bewegungen lebensnaher darstellen kann als bisherige Publikationen zum Thema wie beispielsweise Degrowth: Handbuch für eine neue Ära. Die Herausgeber/innen setzen Degrowth in Beziehung zu diesen Bewegungen und loten dabei viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede aus. Der Band zeichnet damit ein grobes Bild des Mosaiks linker zivilgesellschaftlicher Bewegungen, das hoffentlich die Vernetzung dieser weiter stärkt. Vielleicht kann es sogar dazu beitragen, dass durch den Rückgriff auf diese Gemeinsamkeiten (wie etwa die Forderung nach einem Guten Leben für alle) die links-progressiven Teile der Gesellschaft in ihrem Engagement durch eine Solidarisierung miteinander wirkmächtiger werden.

Der Sammelband gibt 32 sozial-ökologischen Bewegungen bzw. Strömungen die Möglichkeit, sich durch die Beantwortung von fünf Fragen in einem Kapitel zu präsentieren und mit Degrowth auseinanderzusetzen. Je nach Bewegung bzw. Strömung sind die Kapitel unterschiedlich spannend geschrieben. Während manche eher akademisch daherkommen, sind andere deutlich aktivistischer. Dementsprechend wird der Band von manchen Leser/innen vermutlich eher selektiv gelesen oder als Nachschlagewerk benutzt. Da die Kapitel jedoch in der Regel lediglich 12 Seiten umfassen, sind sie meistens kurzweilig genug, um den Band auch von vorne bis hinten durchlesen zu können.

Manche der dargestellten Bewegungen unterscheiden sich stark, andere Kapitel wiederum lesen sich stellenweise wie Protokolle verschiedener Arbeitsgruppen von ein und demselben Projekt. Spannungen zwischen den Bewegungen und Strömungen bestehen beispielsweise bezüglich der bereits angesprochenen eher aktivistischen oder stärker akademischen Ausrichtung. Auch hinsichtlich der Radikalität gibt es gewisse Unterschiede (zum Beispiel im Umgang mit der repräsentativen Demokratie), wobei es in der Regel vielmehr um verschiedene Schwerpunktsetzungen geht: von der Bewegung gegen Kohlestrom über die Care Revolution bis hin zu Urban Gardening; von der Problematisierung von Geld, über die Kritik an Geschlechterkonstruktionen bis hin zum Umgang mit unserem kolonialen Erbe. Mitunter geht es auch weniger um soziale Bewegungen oder intellektuelle Strömungen als vielmehr um konkrete Protestformen (zum Beispiel Artivism). Auch wenn dies im ersten Moment verwirren oder (hinsichtlich des Versprechens, 32 Alternativen präsentiert zu bekommen) vielleicht sogar enttäuschen mag, handelt es sich um wertvolle Beiträge, die den bestehenden Bewegungen und Strömungen helfen können, sich weiter zu diversifizieren, organisieren und kritisch zu reflektieren.

Der Band stellt letztlich auch viele verschiedene Interpretationen von Degrowth dar. Zwar ist es auch erklärtes Ziel des Bandes, mit gewissen Vorurteilen aufzuräumen, doch reicht er gleichzeitig vielfältigen Verbindungen mit anderen Themen und damit unterschiedlichen Perspektiven auf Degrowth die Hand. Dies ermöglicht es, den Bedarf konkreter Weiterentwicklungen zu ermitteln: So kommt zwischen verschiedenen Beiträgen beispielsweise eine Diskussion zwischen der in Degrowth impliziten Forderung nach ‚weniger‘ und dem Kampf um ‚mehr‘ auf, wie es u.a. die Care Revolution oder Buen Vivir vertreten, indem sie mehr Raum für gemeinschaftliches Leben oder mehr Zeit und Ressourcen für Sorgearbeit fordern. Auch wenn dies nur scheinbar einen Widerspruch darstellt – denn Degrowth fordert keineswegs ein dogmatisches ‚Weniger‘ (S. 110) –, wirft es konkrete Fragen auf, zum Beispiel wie der Pflegebereich ausgebaut werden kann, ohne damit ökologische Probleme zu verschärfen.

Nicht alle Bewegungen, die im Buch dargestellt werden, würden sich unter Degrowth als Oberbegriff einordnen, und nicht alle Menschen, denen es zentral um Degrowth geht, stehen den beschriebenen Bewegungen nur positiv gegenüber. Und trotz dieser und anderer zahlreicher Differenzen handelt es sich um Bewegungen, die auf unterschiedlichen Wegen in ähnliche Richtungen arbeiten und häufig nicht klar voneinander abgegrenzt werden können. Noch viel wichtiger aber ist, dass es sich um Bewegungen handelt, die in diesem Pluralismus tendenziell eine Chance sehen und den Austausch sowie die Kooperation miteinander dem Konkurrenzdenken vorziehen. Wenn dieser konstruktive Umgang miteinander tatsächlich – und nicht lediglich im Buch – stattfindet und anhält, können diese Bewegungen enorm viel erreichen. In diesem Sinne könnte man sagen: Läuft bei Degrowth.

Zur Multimedia-Seite des Bandes mit weiteren Informationen und Veranstaltungshinweisen geht es hier.

Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V., DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Hrsg.): Degrowth in Bewegung(en) – 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation. 2017. oekom verlag, München, 416 Seiten.

Jannis Eicker hat Sozialwissenschaften und VWL in Erfurt und Kassel (Global Political Economy) studiert. Seit Januar 2017 arbeitet er beim netzwerk n e. V., einem Verein, der studentische Nachhaltigkeitsinitiativen bei der Transformation ihrer Hochschule unterstützt. Als Mitglied des ILA-Kollektivs ist er mitverantwortlich für das Buch „Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert“.

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