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Ivan Illich: Autonomie und Freundschaft

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„Handle so, dass die Wirkung Deines Handelns mit dem Fortbestand wirklich menschlichen Lebens vereinbar ist.“

Ivan Illich (1926-2002) ist als Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter und eines kroatischen Bauingenieurs in Wien geboren und verbrachte seine Kindheit zunächst in einem noch vorindustriellen Dorf in der Nähe von Split in Dalmatien, dann im Wiener Stadtteil Pötzleinsdorf. 1941 war er aufgrund seiner Abstammung gezwungen, Österreich zu verlassen, machte in Florenz sein Abitur und studierte an der Universität des Vatikan, wo er 1951 promoviert wurde und seine Weihe zum Priester erhielt. Als solcher war er in der Folgezeit zunächst in New York, dann in Puerto Rico und nach einer einjährigen Wanderung in Mexiko tätig. Hier begannen seine Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche, die in seinen Augen mit ihrer westlich zentrierten Missionierungspolitik und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (polemisch verkürzt: Ja zur Atombombe, Nein zur Verhütung) den falschen Weg ging. 1969 legte er sein Priesteramt nieder und widmete sich fortan als „radikaler Humanist“ (Erich Fromm) vor allem der publizistischen Tätigkeit. In späteren Jahren war er als Gastprofessor u.a. in Kassel, Marburg und Bremen tätig, wo er 2002 auch beigesetzt wurde.

„Das gesamte Werk Illichs ist eine Infragestellung der Entwicklung, des Wirtschaftswachstums, der Industrialisierung (…) und der modernen Lebensweise“, schreibt Serge Latouche über den ungemein belesenen und in den späten Lebensjahren mehr als zehnsprachigen Denker Ivan Illich. Er selbst sah seine Arbeit als einen „Versuch, mit großer Traurigkeit die Tatsache der westlichen Kultur zu akzeptieren“, deren Ausbreitung und Auswirkung er besonders in Lateinamerika sehr genau studieren konnte. Dabei war ein kein verhärmter Kritiker der Gegenwart oder Prophet einer düsteren Zukunft: „Ich vermute sehr, dass es möglich ist, eine Lebenskunst in der Jetzt-Zeit zurückzugewinnen. Ich glaube an die Kunst zu leiden, an die Kunst zu sterben, an die Kunst zu leben, und, wenn es in einer nüchternen und hellsichtigen Weise passiert, glaube ich an die Kunst des Vergnügens – die Kunst, ein frohes Leben zu führen.“ Wer immer Illich in Seminaren, privaten Diskussionen, Gesprächen, auf Symposien oder (anderen) Feiern kennengelernt hat, schildert ihn als einen in sich ruhenden offenen und warmherzigen Menschen, der seinen Gesprächspartnern zuhörte und ihnen Zugang zu anderen vermittelte; Begegnungen mit ihm waren Feste der Freundschaft und der „Konvivialität“.

Als Dozent und Buchautor machte er allerdings keine Konzessionen an den Zeitgeist oder die Befindlichkeiten seiner Leserschaft. Wie der von ihm verehrte Jacques Ellul kam er noch aus einer Zeit, in der „menschliche“ Strukturen, wenn schon nicht mehr vorherrschend, so doch noch möglich und durchaus verbreitet waren. Deutlicher noch als Ellul erlebte er in Lateinamerika die Auswirkungen der forcierten Industrialisierung und „Verwestlichung“ über Jahrhunderte entstandener Strukturen und Beziehungen. Manche seiner soziologischen, historischen, sprachkritischen oder allgemein „gesellschaftlich-menschlichen“ Überlegungen mögen trotz ihrer gedanklichen Schärfe zunächst überholt oder utopisch erscheinen. Auf den zweiten Blick aber lassen sie ermessen, wieviel wir eigentlich im Zwanzigsten Jahrhundert verloren haben und wie radikal der Sinneswandel sein müsste, der eine wirklich andere Welt überhaupt erst wieder denkbar machte.

Wohnen

Wer wie fast alle heutigen West-Menschen in einer Welt von fremdgefertigten Häusern an für Autos hergerichteten Straßen groß geworden ist, findet es idyllisch, wenn ein Stadtviertel verkehrsberuhigt wird, und anarchisch-autonom bis asozial, wenn ein paar „Chaoten“ ein leerstehendes Haus (instand) besetzen oder gar in einer städtischen Brache ihre Zelte oder Bauwagen platzieren. Illich hat in seinen Jugend- und späteren Wanderjahren viele Ortschaften gesehen, die noch von ihren Einwohner/innen selbst bzw. ihren Vorfahren erbaut worden waren. Er hat aber auch z.B. die Verwandlung Mexiko-Citys und anderer Städte miterlebt: Mit den besten Absichten wurden und werden, wenn es die Staatskasse erlaubt, Wellblechhüttendörfer zerstört und durch die immergleichen Hochhaussiedlungen ersetzt, die für einen Lebensstil gedacht sind, den sich ihre Bewohner/innen gar nicht leisten können. So werden sie entmündigt und aller Autonomie beraubt, ganz wie weltweit die Städte immer unpersönlicher, menschenfeindlicher und darin einander immer ähnlicher werden. Viel angemessener wäre es, den Menschen Baumaterial zur Verfügung zu stellen und ihnen zu ermöglichen, ihre Häuser und Orte selber zu gestalten und zu verwalten. Selbst in Europa war es noch vor historisch gesehen recht kurzer Zeit üblich, auf der Ebene des Dorfes gemeinsam über Wälder, Brunnen und Weideflächen als Allmenden zu verfügen.

Fortbewegung

Vielen ist Illich für eine Überlegung bekannt, die er gemeinsam mit Jean-Pierre Dupuy entwickelt hat: Um zu ermessen, wie schnell man wirklich durch das Auto ist, muss man die Arbeitszeit mit in Betracht ziehen, die man in seinen Kauf und Unterhalt investiert. Dazu kommen die Milliarden Euro (und die entsprechende Arbeits- und Lebenszeit) für Straßenbau, Unfallkosten und Umweltschäden. Wenn man nun noch bedenkt, wie oft der Autofahrer im Stau steht und wie weit die Wege zur Arbeit oder zum Einkauf durch das System Auto geworden sind, ergibt sich eine Geschwindigkeit von weniger als 10 km/h. Man ist also mit dem Fahrrad, ja heute wahrscheinlich längst zu Fuß schneller als mit dem Auto – ganz abgesehen davon, dass Autos die Städte und ihre sozialen Strukturen zerstören, Landschaften zerschneiden, Unmengen Rohstoffe benötigen, für die wiederum Kriege geführt werden usw. Am Beispiel des industrialisierten Verkehrs zeigt Illich, wie Systeme jenseits einer gewissen Schwelle zum Gegenteil dessen führen, weswegen sie eigentlich entstanden sind. Das Auto sollte uns schneller machen, tatsächlich macht es uns langsamer. Allerdings merkt das kaum jemand mehr:

„Der Gewohnheitspassagier ist also nicht mehr imstande, den Unfug eines überwiegend auf Transportmitteln beruhenden Verkehrs zu durchschauen. Seine überkommene Wahrnehmung von Raum, Zeit und persönlichem Tempo ist industriell deformiert. Er hat die Freiheit verloren, sich selbst außerhalb der Rolle des Passagiers zu sehen. Seine Sucht, sich fahren zu lassen, lässt ihn die Kontrolle über die physische, soziale und psychische Kraft verlieren, die den Füßen des Menschen innewohnt.“

Medizin

Wer wollte die Segnungen der Medizin in Frage stellen? Spätestens wenn es an die eigene Haut geht, wirft auch der schärfste Kritiker der medizinischen Perfektionierung und Entmündigung seine Bedenken über Bord und gibt sich in die Hände des Gesundheitssystems. Nicht so Ivan Illich: Für ihn war auch die Medizin ein System, das seinen eigenen Absichten zuwiderläuft, nicht nur, weil es jahrtausendealtes Heilwissen zerstört und Menschen entmündigt, sondern auch, weil es eigene „iatrogene“ Leiden verursacht: „Im engsten Sinne des Wortes bezeichnet ‚iatrogene Krankheit’ nur jene Leiden, die nicht entstanden wären, wenn keine korrekte und medizinisch angezeigte Behandlung vorgenommen worden wäre. (…) In einem weiteren, allgemein akzeptierten Sinn umfasst iatrogene Krankheit all jene klinischen Zustände, für die Heilmittel, Ärzte oder Krankenhäuser die pathogenen oder krankmachenden Ursachen sind.“ Hier wie an anderer Stelle spricht er von der „Nemesis“ der modernen Welt: „Die klassische Nemesis war Strafe für den vermessenen Missbrauch von Privilegien. Die industrielle Nemesis ist Vergeltung für die gehorsame Teilnahme am Streben nach Träumen, die weder durch die traditionelle Mythologie noch durch eine neue, vernünftige Selbstbeschränkung kontrolliert werden.“ Konsequenterweise ließ er auch seine langjährige Krebserkrankung nicht medizinisch-technisch behandeln und linderte seine Schmerzen autonom (und nicht wirklich legal) mit Opium, von dem er bei akuten Attacken ein Pfeifchen rauchte.

Entschulung der Gesellschaft

Auch die Schule ist für Illich ein System, das seinem erklärten Zweck entgegenwirkt. Je mehr Menschen für die Bedürfnisse unserer Konsum- und Industriegesellschaft ausgebildet werden, desto mehr „Versager/innen“ gibt es. Die Schule ist den Schüler/innen (und vielen Lehrer/innen) eine Qual, und viele Menschen sind der Ansicht, alles Wesentliche fürs Leben oder für den Beruf erst nach der Schulzeit gelernt zu haben. „Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Kompetenz, von der man annimmt, sie sei in der Schule erlangt worden, und dem Können im Beruf“ sagt Illich. Nicht der junge Mensch, sondern die Industriegesellschaft brauche die Schule, denn „sie ist die Werbeagentur, die einen dahin bringt zu glauben, man brauche die Gesellschaft so, wie sie ist.“ Illich plädierte für ein autonomes Lernen „à la carte“ in möglichst wenig vorgegebenen Bahnen und durchaus auch mit Unterstützung des Internets, dem er keineswegs durchweg ablehnend gegenüberstand. Letztlich lerne der Mensch nur, wenn er sich für seinen Lerngegenstand interessiere.

Wie weiter?

Besonders in späteren Jahren hat Illich sich von Versuchen distanziert, durch Proteste und Reformen die schlimmsten Auswüchse der modernen Lebens- und Wirtschaftsweise abzumildern, was ihm einige Kritik aus Aktivist/innenkreisen beschert hat, die ihn unter anderem als elitär oder sozialromantisch missverstanden. Aber ohne individuelle Selbstbegrenzung, Autonomie und ein anderes, von „unten“ organisiertes Miteinander waren für ihn alle Verbesserungen des Gegebenen nur ein Weitermachen, das sich über kurz oder lang wieder nur in das Gegenteil des Angestrebten umkehren würde. „Ich plädiere für eine Erneuerung asketischer Praktiken, damit unsere Sinne in den durch die ‚Show’ verwüsteten Welten, inmitten überwältigender Informationen, lebenslänglicher Beratung, Intensivdiagnostik, therapeutischem Management, Invasion von Beratern, Terminalpflege, Geschwindigkeit, die einem den Atem raubt, lebendig bleiben.“

Illich war universal interessiert und gebildet und hat sich neben den angerissenen Themen insbesondere auch mit der Kirche und dem Christentum, später z.B. mit Genus („gender“) oder unserer vor allem visuellen Wahrnehmung beschäftigt. Die meisten seiner größeren Werke sind im Original oder übersetzt auf Deutsch erschienen.

 

Illustration © Valérie Paquereau

 

Wichtige deutschsprachige Werke von Ivan Illich in chronologischer Reihenfolge:

(Angegeben sind die Originalausgaben sofern bekannt; die meisten Werke sind zunächst bei Rowohlt erschienen, einige kürzlich bei C.H.Beck wiederaufgelegt worden)

Almosen und Folter. Verfehlter Fortschritt in Lateinamerika. München: Kösel 1970.
Klarstellungen. Pamphlete und Polemiken. München: Beck 1996 (1970).
Entschulung der Gesellschaft. München: Kösel 1972.
Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft. Rowohlt, Reinbek: Rowohlt 1972.
Die sogenannte Energiekrise. Reinbek: Rowohlt 1977 (1974).
Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek: Rowohlt 1975.
Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis. Reinbek: Rowohlt 1975.
Fortschrittsmythen. Reinbek: Rowohlt 1978.
Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens. Reinbek: Rowohlt 1981.
Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit. Reinbek: Rowohlt 1982.
Schule ins Museum. Phaedros und die Folgen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1984.
H20 und die Wasser des Vergessens. Reinbek: Rowohlt 1987.
Im Weinberg des Textes. Ein Kommentar zu Hugos ‚Didascalicon’. München: Beck 2014 (1991).

Ivan Illich zur Einführung:
Ivan Illich (mit David Cayley): In den Flüssen nördlich der Vernunft. München: Beck 2005.
Einzigartige Interviews kurz vor seinem Tod.
Thierry Paquot: Ivan Illich. Denker und Rebell. München: Beck 2017.
Reich dokumentierte Einführung zu Leben und Werk von ausgezeichneten Illich-Kennern.
Werner Pieper (Hg.): Ivan Illich. Der visionäre Wurzelwerker. Birkenau: Verlag W. Pieper 2015.
Ivan Illich aus der Graswurzelperspektive.

Links zu Ivan Illich:
https://journals.psu.edu/illichstudies
Seite des International Journals of Illich Studies
www.pudel.uni-bremen.de
Sehr veraltet, bietet aber eine Bibliographie und viele sonst schwer zugängliche Texte von und zu Illich
www.ivanillich.org.mx
Einige Videos und schriftliche Beiträge von und über Illich auf Spanisch und in mehreren anderen Sprachen
http://www.preservenet.com/theory/Illich.html
Kleinere Werke und einige Klassiker wie Deschooling Society und Tools for Conviviality auf Englisch und Französisch
https://illichlinks.wordpress.com/author/illichlinks
Verlinkte Zitate- und Stichwortsammlung
http://fragmente-wiesbaden.de/resources/Bestand_Illich_Sammlung_31082014.pdf
Wiesbadener Bestand der Ivan-Illich-Sammlung, Daten Hunderter Werke von und über Illich

 

Marc Hieronimus ist Historiker, Philosoph, Comicforscher und Dozent für Deutsch als Fremdsprache. Zu seinen Interessen und Forschungsgebieten gehören der Nationalsozialismus im Comic, die Wirkung visueller Medien, Gesellschafts- und Technologiekritik, Karikatur, die Magie in Mittelalter und Moderne, Tiefenpsychologie, "wilde" Lebensformen u.v.m. Seine Gedichte, Erzählungen und Essays sind in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen, darunter der Lichtwolf. Nach einigen Jahren in Frankreich lebt er heute mit seiner Familie am Waldrand von Köln. Weitere Informationen unter www.marc-hieronimus.de.

2 Kommentare

  1. Zu meinen wichtigsten Mentoren meines bisher 75 Jahre dauernden Lebens gehört unzweifelhaft Iwan Illich. Als Architekt/Raumplaner teile ich bis heute seine radikale Auffassung, dass das „Sanieren“ der „Slums“, „Bidonvilles“, „Favelas“ und das Ersatzangebot in „zeitgemäss“ ausgestatteten Wohnhochhäusern ein krimineller Akt ist, auch wenn die Wohnungen dauernd staatlich subventioniert sind. In einem UNESCO-Projekt habe ich einmal 1978/79 mit Studierenden der ETH zusammen eine Strategie zum staatlich unterstützten Selbstbau entwickelt, was vom König nicht bloss ignoriert, sondern wohl zum Abbruch auch des gesamten UNESCO-Projektes geführt hat. Erdogan hat dasselbe ja mit den Gecekondu-Siedlungen gemacht und in Ostasien geschieht dies gegenwärtig noch immer in noch grösserem Maßstab. Als die grösste Katastrophe empfinde ich dabei, dass die höchsten Beamten der UN-Organisation Habitat den Diktatoren dazu noch gratuliert!
    Als Pädagoge und Schulraumentwickler teile ich seine radikale Kritik am heutigen Schulsystem. Auch die Arbeiten zu den Genus-Tatsachen und Traditionen in Südamerika halte ich für eine wichtige Kritik an den aktuellen und oft fundamentalistischen Genderdebatten.

    In meiner 2007 publizierten Doktorarbeit zu Architektur und Schulbau geht es genau um diese Themen. Bei Interesse sende ich Ihnen gerne das pdf dieser Forschungsarbeit.

    Danke für ihre wertvolle Würdigung des Lebenswerkes und – Wirkens dieses bedeutenden Menschen.

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