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Hoheit der Semantik: Chronologie des Wachstumsparadigmas

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Er selbst nennt es eine chronologische Analyse des Wirtschaftsjournalismus. Eine durchaus treffende Beschreibung dessen, was Ferdinand Knauß in seinem Buch „Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“ vornimmt: Er zählt Begriffe wie „Wirtschaftswachstum“, „Sozialprodukt“ oder „Innovation“ aus, ordnet sie verschiedenen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und den überregionalen Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), der Zeit und dem Spiegel zu und erklärt bespielhaft, wie ihnen im Verlauf Bedeutungen zugeschrieben werden.

So kannte wohl vor den 1950ern kaum einer den Begriff „Bruttosozialprodukt“ geschweige denn wusste um dessen wirtschaftspolitische Bedeutung.

Knauß folgt, angefangen bei den Glanzzeiten der Vossischen Zeitung (1918-1934) als noch niemand wusste, was wachsen soll, über den Fortschrittglauben der Wirtschaftswunder-Zeiten und dem ordoliberalen Wirtschaftsideal zu Zeiten Ludwig Erhards bis hin zu ersten Versuchen der Wachstumskritik durch den Club of Rome 1973 und der „langen Gegenwart des Wachstumsparadigmas“, einem strikt chronologischen Aufbau. Drei Interviews mit Wirtschaftsjournalisten, in deren Fokus die Dreiecksbeziehung zwischen Journalismus, Politik und Wirtschaftswissenschaften, erweitern die Perspektive für Lesende auf erfrischende Weise.

Selbstverständlich könnte man an dieser Stelle nun die einzelnen Kapitel nacheinander durchgehen und beschreiben. Aber welcher Mehrwert könnte mit der Beschreibung einer Chronologie geschaffen werden? Im besten Fall könnte es die Basis für Interpretationen sein, für eine Auseinandersetzung mit Inhalten. Das Buch von Knauß kann Grundlage für eine inhaltliche Debatte darüber sein, ob Wirtschaft eine neue Semantik, neue Färbungen und Nuancen braucht. Ein gemeinsames Problemverständnis darüber, dass ein stetiges ressourcenabhängiges Wachstum kaum Zukunftsmodell sein kann, gibt es womöglich schon. Wer Wachstumskritiker/innen dieser Tage noch als weltfremde Kulturpessimist/innen abtut und Wachstumskritik als Luxusdebatte verschreit, hat die Problemlage nicht verstanden. Alle anderen sind dazu eingeladen, eine Qualitätsdiskussion darüber zu führen, welche neuen Instrumente und Begriffe wir brauchen, um das Allheilmittel Wirtschaftswachstum abzulösen.

Wer die alten Instrumente und Begriffe kennt, wie sie Knauß eben aufbereitet, der ist gewappnet für eine pointierte und streitlustige Diskussion über die Liaison zwischen Wirtschaftswissenschaften, Politik und Wirtschaftsjournalismus. All jene, die sich diese inhaltliche Auseinandersetzung von „Wachstum über alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“ erhofft haben, wenn es etwa im Klappentext heißt „die Ursprünge der Symbiose“ würden zurückverfolgt werden, werden auf eine zwar zeitweise normative, aber in erster Linie sachlich deskriptive, beinahe technische Abhandlung zurückgeworfen.

Ferdinand Knauß „Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde“, 2016 oekom, München, 192 Seiten, 24,95€.

Hanna Völkle ist Sozialwissenschaftlerin, hat einen Master in Politischer Ökonomie und promoviert zum Thema feministisch-ökologische Zeitpolitik an der Universität Vechta. Sie arbeitet für die EAF Berlin und hat einen Lehrauftrag an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Von 2015 bis 2016 war sie Volontärin am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung.

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