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Ein ideales persönliches Zeitprofil für Nachhaltigkeit?

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Die Zeitperspektive eines Menschen wird aus seiner persönlichen Sicht auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft geformt. Dabei gibt es messbare individuelle Unterschiede, inwiefern jede dieser drei Hauptkategorien menschlicher Zeitwahrnehmung unser Handeln bestimmt. Der mit den Stanford Prison Experimenten berühmt gewordene Psychologe Phillip Zimbardo hat einen guten Teil seines Forscherlebens der Frage gewidmet, auf welche Lebensbereiche diese individuelle zeitliche Orientierung Einfluss nimmt und mit Gesundheit, Risikoverhalten und Berufserfolg (u.v.m.) auch etliche benannt (Zimbardo, 2009). Ihm zufolge gibt es so etwas wie ein „ideales Zeitprofil“ für ein erfülltes, glückliches Leben, das durch ein einen vorwiegend positiven Bezug zur Vergangenheit (past positive), einem moderaten Genuss der Gegenwart (present hedonism) und einer Prise Zukunftsorientierung (future) gekennzeichnet ist.

Dagegen ist es für das gesundheitliche und psychische Wohlbefinden eher abträglich, sich auf negative Aspekte der Vergangenheit zu konzentrieren (past negative) oder sich von dem Gefühl der Hilfslosigkeit in der Gegenwart lähmen zu lassen (present fatalitistic, Zimbardo & Boyd, 1999).

Kurzfristige Kosten vs. langfristiger Nutzen

Für die Frage, was einen nachhaltigen Lebensstil begünstigt, wie er sich u.a. in ressourcenschonendem Verhalten oder sozial-ökologisch bewusstem Konsum ausdrückt, ist v.a. die Zukunftsperspektive von Menschen entscheidend. Diese wurde in der umweltpsychologischen Forschung als das Ausmaß, an zukünftige Konsequenzen im Rahmen von wenigen Wochen bis Jahren (unmittelbare vs. weiter entfernte Konsequenzen, Bruderer Enzler, 2015) zu denken, beforscht. Allen diesen Zeitrahmen ist gemein, dass sie innerhalb der eigenen Lebensspanne eines Menschen liegen, Ereignisse darüber hinaus finden keine Berücksichtigung. Führt man sich einige Beispiele aus dem Alltag vor Augen, erschließt sich der gemeinte Zusammenhang selbstredend: der Kauf teurer, aber energiesparender Haushaltsgeräte rentiert sich erst nach Jahren des Gebrauchs, der gesundheitliche Effekt von Fahrradfahren stellt sich erst in einigen Wochen ein und die positiven Folgen von pestizidfreien, biologisch angebauten Lebensmitteln sind z.T. nicht nur zeitlich (die eigene Gesundheitsprophylaxe), sondern auch noch räumlich (fruchtbare Ackerböden) weit entfernt und so weiter.
Wem auf der anderen Seite an unmittelbarer Belohnung, einen Teilaspekt hedonistischer Gegenwartsorientierung, gelegen ist, dem wird es tendenziell schwerer fallen, sich aufs Fahrrad zu schwingen oder die Heizungsthermostat im Winter auf 20° Grad stehen zu lassen.

Zahlreiche umweltpsychologische Forschungsarbeiten haben sich mit diesem zeitlichen Konflikt von kurzfristigen Kosten vs. langfristigem Nutzen im Umweltverhalten beschäftigt. Sie haben vielfach gezeigt, dass sich eine zukunftsorientierte Zeitperspektive positiv auf Umweltschutzverhalten wie Verkehrsmittelwahl, Recyclingrate oder Energiesparmaßnahmen auswirkt (Joireman, Van Lange, & van Vugt, 2004; Strathman, Gleicher, Boninger, & Edwards, 1994), während sich eine gegenwartsbezogene Zeitperspektive eher negativ bemerkbar macht (z.B. auf Wassersparverhalten in Mexiko; Corral-Verdugo, Fraijo-Sing, & Pinheiro, 2006).

Kompatibilität verschiedener Zeitperspektiven?

Ist dieser Grundkonflikt zwischen der persönlichen Bedeutung der Gegenwart vs. der Bedeutung der Zukunft für die Nachhaltigkeit unauflösbar? Muss es automatisch bedeuten, die zukünftigen Konsequenzen des eigenen Handelns aus den Augen zu verlieren, wenn man in der Gegenwart verweilt? Zimbardo und Boyd würden das wohl so sehen, sie sehen ihre Zeitperspektiven als voneinander abhängig und in Teilen inkompatibel, was hieße, dass man die Menschen danach einteilen könnte, ob sie vorwiegend vergangenheits,- gegenwarts,- oder zukunftsbezogen sind. Im Gegensatz dazu sehen andere Autoren (Shipp, Edwards, & Lambert, 2009) zeitliche Perspektiven (oder dort: zeitliche Foki) grundsätzlich als voneinander unabhängige Dimensionen gedanklicher Gerichtetheit an, die zumindest theoretisch frei kombinierbar wären. Wessen Sichtweise hier die zutreffendere ist, ist wissenschaftlich noch nicht abschließend geklärt. Letztere Sicht der Kompatibilität verschiedener zeitlicher Perspektiven wäre im Sinne der Nachhaltigkeit ein wünschenswertes Szenario: Die im Zusammenhang mit Zeitwohlstand vorgebrachten aktuellen Forderungen nach mehr Muße und Entschleunigung könnten sich dann getrost im Genießen des gegenwärtigen Augenblicks ausdrücken, wie es mit der Popularität von Meditationspraktiken, Wellness-Oasen und individuellen Auszeiten auch schon geschieht. Gleichzeitig oder mit gleicher Gewichtung könnte der Fokus der Gedanken auf den langfristigen Wirkungen des eigenen Verhaltens liegen (während man z.B. im Garten ohne Eile die Rosen schneidet) und die Muße dazu befähigt, Zeitrahmen menschlichen Handelns zu kontemplieren, die in der Hektik des Alltagslebens untergehen.

Für eine Erweiterung des Zeithorizontes

Ein solcher Zeitrahmen umfasst die in verschiedenen Nachhaltigkeitsdefinitionen oft bemühte Berücksichtigung der Lebensgrundlagen „zukünftiger Generationen“ (u.a. World Commission on Environment and Development, 1987), die sich auch schon in z.T. jahrhundertalten grundlegenden Texten von Ureinwohnervölkern wiederfinden, wie z.B. The Great Law of Peace der Irokesen. Obwohl die Anzahl dieser zu bedenkender Generationen selten genau benannt wird, ist in gesellschaftlichen Kontexten von Ureinwohnern meist von sieben die Rede, was einen Zeitrahmen (je nach Generationenabstand) von um die 200 Jahren entspräche. Dieser Zeithorizont ist für uns Menschen im Alltag (bisher noch) von keinerlei gedanklicher Relevanz, wie Bluedorn (2002) mit seiner Forschung zu „zeitlicher Tiefe“ von Zeithorizonten zeigen konnte. Für die meisten Menschen umfasst eine „langfristige Zukunft“ einen Zeitrahmen von 5-10 Jahren, kaum einer (1.9% aller Befragten) denkt dabei noch weiter voraus als 25 Jahre, geschweige denn mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte.

Damit ist eine wesentliche Stolperfalle für die Verankerung von mehr Nachhaltigkeit im Alltag benannt: das Kriterium, an dem die Nachhaltigkeit von Verhaltensweisen festgemacht wird, nämlich die Zukunftstauglichkeit für nachfolgende Generationen, geht bei weitem über die üblichen Zeitkategorien menschlichen Denkens hinaus. Wollten wir Zimbardos Konzept eines idealen Zeitprofils für individuelles Wohlergehen auf ein ideales Zeitprofil für das planetare Wohlergehen erweitern, würde es folgendermaßen aussehen: positive Erinnerungen an die Vergangenheit pflegen, in Maßen die Gegenwart genießen, ebenso an die eigene Zukunft denken und mit einem Teil unserer Kapazitäten die weitere Zukunft der gesamten Menschheit im Blick behalten. Und das geht eventuell nur mit mehr Müßiggang.

 

Literaturnachweise

Bluedorn, A. C. (2002). The Human Organization of time: Temporal Realities and experiences: Stanford Business Books.

Bruderer Enzler, H. (2015). Consideration of Future Consequences as a Predictor of Environmentally Responsible Behavior: Evidence From a General Population Study. Environment and Behavior, 47(6), 618–643. doi:10.1177/0013916513512204

Corral-Verdugo, V., Fraijo-Sing, B., & Pinheiro, J. Q. (2006). Sustainable Behavior and Time Perspective:: Present, Past, and Future Orientations and Their Relationship with Water Conservation Behavior. Revista Interamericana de Psicología/Interamerican Journal of Psychology. (40), 139–147.

Joireman, J. A., Van Lange, Paul A. M., & van Vugt, M. (2004). Who Cares about the Environmental Impact of Cars?: Those with an Eye toward the Future. Environment & Behavior, 36(2), 187–206. doi:10.1177/0013916503251476

Shipp, A. J., Edwards, J. R., & Lambert, L. S. (2009). Conceptualization and measurement of temporal focus: The subjective experience of the past, present, and future. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 110(1), 1–22. doi:10.1016/j.obhdp.2009.05.001

Strathman, A., Gleicher, F., Boninger, D. S., & Edwards, C. S. (1994). The consideration of future consequences: Weighing immediate and distant outcomes of behavior. Journal of Personality and Social Psychology, 66(4), 742–752. doi:10.1037/0022-3514.66.4.742

World Commission on Environment and Development (WCED) (1987). Our common future. New York, NY: Oxford University Press.

Zimbardo, P. G. (2009). Die neue Psychologie der Zeit: und wie sie Ihr Leben verändern wird. Spektrum Akademischer Verlag.

Zimbardo, P. G., & Boyd, J. N. (1999). Putting time in perspective: A valid, reliable individual-differences metric. Journal of Personality and Social Psychology, 77(6), 1271–1288. doi:10.1037/0022-3514.77.6.1271

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