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Die (verlorene) Zeit

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Technische Geräte sind heute unsere ständigen Begleiter. Wir benutzen sie für so viele kleine und größere Nützlichkeiten. Sie sind intuitiv und mit wenig Zeitaufwand zu bedienen und dennoch verursachen sie bei einigen Menschen ein Gefühl von ständiger Hektik. Uns rennt die Zeit davon und dafür machen nicht Wenige gerade die persönlichen digitalen Helfer verantwortlich.

Die Messung der Zeit…

Zeit zu sparen, ist ein zentrales Argument für unseren Umgang mit digitalen Technologien. Allgemein haben Uhrzeiten einen großen Einfluss auf die Gestaltung unseres Lebens. Dabei sind sie, oft repräsentiert durch das Ticken von Uhrzeigern, doch zunächst nur Nummernkonstellationen auf einem Ziffernblatt. Vor der Erfindung von Uhren konnte man den Lauf der Zeit nur an Veränderungen beobachten. An ihnen erkennt man, dass es ein Davor und ein Danach und damit Zeiträume gibt. Zeitpunkte sind in dieser Vorstellung nur passive Bestandteile an Aktivitäten, die keinen Einfluss auf die Struktur unserer Tagesabläufe haben. Das Ticken des Uhrzeigers ermöglicht lediglich, Zeiträume zu messen, um sie zu vereinheitlichen und miteinander zu vergleichen (Safranski, 2017).

Es war nicht immer die Uhrzeit, die uns angab, wann wir auf der Arbeit oder beim Abendessen mit Freund/innen erscheinen sollen. Das ist erst möglich, seit Uhrzeiten in nahezu allen Formen menschlichen Zusammenlebens einheitlich verwendet werden und so die Organisation zwischenmenschlicher Abläufe auf der ganzen Welt ermöglichen. Erst seit nahezu jede Aktivität mit den Aktivitäten anderer Menschen anhand der Uhrzeit koordiniert wird, hat sie eine derart strukturierende Wirkung bekommen. Bald nach ihrer Einführung wurde die allgegenwärtige Zeitmessung in Fabriken im 19. Jahrhundert als so einschneidende Veränderung empfunden, dass in Revolten die Uhren über den Fabrikanlagen zerschlagen wurden. Mittlerweile ist die allgegenwärtige Zeitmessung selbstverständlich, sodass wir unsere Aktivitäten anhand von Zeitpunkten planen und sie kaum mehr zweitrangige und passive Bestandteile sind (Safranski, 2017). So kann Zeit sogar Druck auf uns ausüben.

… und die Beschleunigung unseres Lebens

Seitdem die Messung der Zeit alle unsere Lebensbereiche erobert hat, liegt es näher, unsere Aktivitäten je nach unseren Anforderungen zu beschleunigen. Wir erreichen mehr, wenn wir schneller sind. Das wird umso relevanter, seit wir wie selbstverständlich digitale Technologien verwenden. Wir haben den ganzen Tag über Kontakt zu Freund/innen und Familie, verfolgen das Tagesgeschehen in Kurznachrichten und organisieren unseren Alltag parallel zu alledem, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen. Einige Menschen haben deshalb das Gefühl, ihr Alltag beschleunige sich über das erträgliche Maß hinaus. In der Soziologie werden diese Phänomene derzeit auch unabhängig von digitalen Technologien unter dem Begriff ‘soziale Beschleunigung’ diskutiert. Hartmut Rosa sieht in verschiedenen Formen der Beschleunigung sogar die Ursache der grundlegenden Veränderungen zwischen den Epochen der Moderne und der Postmoderne (Rosa, 2005).

In der Physik versteht man unter Beschleunigung die Zunahme der pro Zeiteinheit zurückgelegten Strecke. Auf unsere Leben bezogen, könnte sie zu einer Zunahme an Ereignissen pro Zeiteinheit führen. Hartmut Rosa definiert die Beschleunigung unserer Leben deshalb als Anstieg der Handlungs- oder Erlebnisepisoden (Rosa, 2005).

Entwarnung aus der Wissenschaft? Wahrgenommene vs. tatsächliche Beschleunigung

Tatsächlich gibt es bereits einige Forschungsergebnisse zum Einfluss der Digitalisierung auf objektive Faktoren der Geschwindigkeit unseres Lebens. Die stimmen mit unserer Intuition jedoch nicht vollständig überein. Zum Beispiel haben die Anzahl der Ereignisse pro Tag in den Boom-Jahren der Digitalisierung, von 2000 bis 2015, nicht zugenommen. Bei den Befragten haben die Ereignisse am Tag auch mit der Verwendung von Smartphones, Tablets oder Computern nicht zugenommen (Sullivan & Gershuny, 2017). Ein anderer Aspekt, der die Geschwindigkeit unserer Leben beeinflusst, wäre Multitasking. Eine weitere Untersuchung ergab, dass mit der Verwendung des Internets die Häufigkeit von Multitasking nicht zugenommen hat und das paradoxerweise, obwohl die Befragten gerade das Internet benutzen, weil sie parallel dazu andere Dinge erledigen können (Kenyon, 2008). Deshalb ist aus wissenschaftlicher Sicht bisher unsicher, ob unsere Leben durch die Verwendung digitaler Medien tatsächlich objektiv schneller werden.

Hinsichtlich subjektiv empfundener Beschleunigung stimmen die Forschungsergebnisse stärker mit unserer Intuition überein. In dem breiten Feld der Büroarbeit berichteten die Befragten von einer zunehmenden Anzahl relevanter Informationen sowie von einer zunehmenden Anzahl an Emails. Auch Flugbegleiter/innen berichten beispielsweise über einen zunehmenden Austausch von Informationen in ihrem Job (Ulferts et al., 2013). Was die Verwendung von Smartphones betrifft, scheint sie nur für Männer (Bittman et al., 2009) beziehungsweise nach einer neueren Studie nur für Männer in besonders anspruchsvollen Tätigkeiten mit mehr Stress zusammenzuhängen (Sullivan & Gershuny, 2017). Für die anderen Männer sowie für Frauen konnte kein Zusammenhang mit Stressempfinden festgestellt werden (Bittman et al., 2009 oder Sullivan & Gershuny, 2017). Zumindest vor dem Eroberungslauf des Smartphones seit dem ersten iPhone im Jahr 2008 wurden Mobiltelefone hauptsächlich zu privaten Zwecken verwendet und ihr Besitz hing nicht mit einer Zunahme von Arbeit in der eigentlich freien Zeit zusammen. Es wird sogar nahegelegt, dass Mobiltelefone zu einer Entspannung von Phasen des Zeitdrucks führen könnten, weil sie es ermöglichen, bestimmte Aktivitäten in ruhigere Phasen zu verlegen (Bittman et al., 2009). Insofern wäre statt von einer eindimensionalen Be- oder Entschleunigung eher von einer Veränderung unserer Zeitverwendungsschemata auszugehen.

Wie nutzen wir unsere Zeit?

Die bestehenden Forschungsergebnisse legen also die Frage nahe, ob die Digitalisierung tatsächlich zu einer Beschleunigung unserer Leben beiträgt. Darauf kann aufgrund einiger Mankos am aktuellen Forschungsstand keine klare Antwort gegeben werden. Zunächst einmal existieren nur wenige empirische Studien zu dem beschriebenen Zusammenhang, wobei manche Facetten sozialer Beschleunigung noch gar nicht untersucht wurden. Außerdem hat es sich als Herausforderung dargestellt, die Geschwindigkeit des Lebens mit empirischen Methoden zu untersuchen. Abschließend können wir festhalten, dass die Intuition einer Beschleunigung des Lebens durch digitale Technologien mit Vorsicht zu betrachten ist und es weiterer Forschung für richtungsweisende Ergebnisse bedarf.

 

Literatur

Bittman, M., Brown, J. E. & Wajcman, J. (2009), ‘The mobile phone, perpetual contact and time pressure’, Work, employment and society 23(4), 673–691.

Kenyon, S. (2008), ‘Internet use and time use’, Time & Society 17(2-3), 283–318.

Rosa, H. (2005), Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Vol.

1760 of Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Safranski, R. (2017), Zeit: Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, FISCHER Taschenbuch, Frankfurt am Main.

Sullivan, O. & Gershuny, J. (2017), ‘Speed-Up Society? Evidence from the UK 2000 and 2015 Time Use Diary Surveys’, Sociology 72(2).

Ulferts, H., Korunka, C. & Kubicek, B. (2013), ‘Acceleration in working life: An empirical test of a sociological framework’, Time & Society 22(2), 161–185.

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