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Der Schritt zur Seite

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„Alles anhalten. Nachdenken. Und das ist nicht trist.“ So lautete Anfang der 1970er das Motto der französischen Comic-Kolumne „L’An 01“ (Das Jahr 01) des genialen Charlie-Hebdo-Zeichners Gébé, als weltweit die letzten positiven Utopien geschrieben wurden. Längst vergessene Wachstumskritiker (es waren ausschließlich Männer) prangerten damals schon die Folgen des sogenannten „Fortschritts“ an.

L'an01

© 2014, Gébé & L’Association

Heute, 45 Jahre später, haben sich Krempel und Rummel vervielfacht, und die Welt steht am Abgrund: Klimawandel, Verseuchung der Böden, der Meere, der Luft und das größte Artensterben seit 65 Millionen Jahren. Die Kriege ums letzte Öl sind noch nicht beendet, die um Wasser, Rohstoffe und fruchtbares Land haben längst begonnen. Die meisten stecken den Kopf in den Sand, die Medien und (andere) Spielzeuge machen es ihnen leicht. Andere sagen immer noch: „Weiter so und mehr davon, wir brauchen Wachstum!“ Eine dritte Gruppe schwört, Wissenschaft und Technik seien die Lösung, dabei sind sie Teil des Problems.

Mein Buch ist als eine Art Einführung in das Denken der Décroissance-Bewegung gedacht, also den französischsprachigen Zweig dessen, was hierzulande als Degrowth oder eben Postwachstum bekannt ist. Die Franzosen bzw. Französinnen (und einige Schweizer/innen) erscheinen mir im Vergleich besonders lebensfroh, aktiv, theoretisch fundiert, aber durchaus auch radikal. In Frankreich gibt es z.B. die von einem Kollektiv von Werbegegner/innen gegründete Zeitschrift La Décroissance, die mittlerweile zu groß geworden ist, als dass Politiker/innen und Leitartikler/innen sie noch ignorieren könnten. Werbung ist die Propaganda der bestehenden Verhältnisse, formt das Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild ihrer unfreiwilligen Konsument/innen, und doch geht hierzulande kaum jemand gegen sie vor.

Außerdem kommen viele große Rückgangsdenker/innen aus Frankreich. Leider ist bei uns kaum eine/r von ihnen bekannt: Die „alten Weisen“ Jacques Ellul und Bernard Charbonneau, jüngere wie Paul Ariès, Bertrand Méheust, François Brune und viele andere sind bis heute gänzlich unübersetzt und daher nur französischsprachigen Leser/innen zugänglich. Die wichtigsten deutschsprachigen Denker der Bewegung sind zweifellos Günther Anders und Ivan Illich, die heute auch nicht gerade in aller Munde sind.

Was aber denken und wollen nun diese Leute? Ihre Kritik ist radikal, das heißt, sie geht an die Wurzeln unseres ökologischen, sozialen und individuellen Elends und richtet sich gegen den Konsens buchstäblich aller etablierten Medien und Parteien.

1. Alles muss weniger werden. Unbegrenztes Wachstum, auch das sogenannte „grüne“ oder „nachhaltige“, ist auf einem begrenzten Planeten nicht möglich. Jedem Grundschulkind leuchtet das ein.

2. Technologie und ihre Errungenschaften sind nicht neutral. Autos, Plastik, Atomkraftwerke, auch die neuen Medien und all unsere Elektrospielzeuge haben Folgen und zwar unterm Strich vor allem negative. Die ökologischen liegen auf der Hand; weit weniger bewusst sind uns die sozialen und psychischen Folgen. Allein über das Auto ließen sich ganze Bücher schreiben. Wir akzeptieren das Gehverbot in unseren Städten und ihre Verschandelung, atmen Gift, führen Krieg um Öl – wofür? Ab einem gewissen, vor Jahrzehnten schon erreichten Punkt macht das Auto den Menschen langsamer und abhängiger statt schneller und flexibler. Es gibt Dutzende ähnlich verrückte Beispiele, wobei die Verrücktheit nie auf unserer Seite ist, immer auf der der Gegner/innen.

3. Politischer und medialer Konsens ist: Die Wirtschaft braucht Wachstum, wir müssen konsumieren, und zwar immer mehr. Aber warum eigentlich? Wir leben in einer Verirrung, einem kollektiven Wahnsinn. Freilich gibt es Nutznießer/innen, und das sind – neben den gottgleich verehrten IT-Milliardären Bezos, Zuckerberg, usw. – die Großkonzerne, Banken und Aktionäre. Radikale Wachstumskritik ist antikapitalistisch. Ein weiterer Punkt, der in (fast) keiner Zeitung mehr erwähnt wird, obwohl doch alle über Trump und die AfD und Syrien und Terror schreiben: Unser expansives Profitstreben hat vor allem auch katastrophale innen- und außenpolitische Folgen, was Max Horkheimer 1939 zu dem bekannten Diktum bewog: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ – und von Krieg und Rassismus gleich mit.

Nicht einmal mehr in sogenannten Sonntagsreden sprechen Politiker/innen und andere Medienköpfe von dem, was allein entscheidend ist: Was muss geschehen, damit alle Menschen weltweit heute und in Zukunft ein bejahenswertes Leben führen können? Rückgang ist der erste Teil einer Antwort, und schon er wird nicht ohne Konflikte zu erreichen sein. Die Franzosen bzw. Französinnen sind uns da, wie mir scheint, schon ein paar Schritte voraus.

Buchcover_SchrittZurSeite

Marc Hieronimus: Der Schritt zur Seite. Postwachstum – Rückgang – Décroissance. Catware Verlag, Norden 2016. 14,80 €. ISBN 978-3-941921-634. Nicht über Amazon erhältlich – gehen Sie in den Buchladen oder bestellen Sie direkt beim Verlag!

 

Marc Hieronimus ist Historiker, Philosoph, Comicforscher und Dozent für Deutsch als Fremdsprache. Zu seinen Interessen und Forschungsgebieten gehören der Nationalsozialismus im Comic, die Wirkung visueller Medien, Gesellschafts- und Technologiekritik, Karikatur, die Magie in Mittelalter und Moderne, Tiefenpsychologie, "wilde" Lebensformen u.v.m. Seine Gedichte, Erzählungen und Essays sind in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften erschienen, darunter der Lichtwolf. Nach einigen Jahren in Frankreich lebt er heute mit seiner Familie am Waldrand von Köln. Weitere Informationen unter www.marc-hieronimus.de.

1 Kommentare

  1. Das Buch kaufe ich mir doch direkt! Super, dass die décroissance in Deutschland etwas bekannter wird! Ich arbeite als Journalistin in Paris und interessiere mich sehr für die décroissance, mache immer wieder Reportagen und Interviews (mit Serge Latouche, Paul Ariès, Vincent Liegey…) für Radio France Internationale und habe auch mal für den SWR ein Feature gemacht, unter dem Pseudonym Nina Rotfels. Ich bin sehr gespannt auf Ihr Buch! Das ist doch mal ein nützliches Geschenk für Freunde und Familie in Deutschland!

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